Ich studiere Mathematik, weil ...
 
... ich Dinge sehen möchte, die andere nicht sehen können. Jedenfalls waren das "damals" meine Gedanken, als ich mich nach dem Abitur dafür entschied, wirklich Mathematik zu studieren. So ist es    dann auch gekommen, ich studiere Mathematik in Bielefeld, bin mittlerweile am Ende meines fünften Semesters und kann mit voller Überzeugung sagen, dass ich mich wieder für die Mathematik  entscheiden würde.
 
Es ist schon überraschend, dass ich meine damalige Motivation, etwas sehen zu wollen, was andere nicht sehen können, auch heute noch als sprudelnden Motivationsquell besitze. Denn das, was man aus der Schule als Mathematik kennt, unterscheidet sich von der wahren Mathematik, die man im Studium langsam kennen lernt, doch ziemlich. So lernt man in der Schule doch vor allem mechanisch anmutende Verfahren, die oft aus dem Nichts zu kommen scheinen und funktionieren, weil der Lehrer es sagt. Diese Verfahren werden dann durch monotone Aufgaben und noch  eintönigere Teilaufgaben "a bis z " in das Gedächtnis gestempelt.
Wie passt es zusammen, dass jemand, der keinen Spaß am Ableiten von Unmengen von Funktionen, dem Multiplizieren von  Zahlenkolonnen und anderen schulmathematischen Alltagstätigkeiten hat, doch mit Freude und Begeisterung für ein Mathematikstudium wirbt? Um das zu erklären, möchte ich den Blick kurz auf das Studium selbst lenken. Das Grundstudium beginnt in der Regel mit den Vorlesungen über Analysis und Lineare Algebra, in einem Umfang von je vier Stunden pro Woche. Verglichen mit dem Schulunterricht ist das Vorlesungstempo ziemlich hoch, doch innerhalb der ersten Semester gewöhnt man sich daran und kommt gut damit zurecht. Zu den Vorlesungen wird jeweils ein Übungszettel pro Woche verteilt, mit durchschnittlich vier Aufgaben (und zwar nicht "von a bis z"), die innerhalb einer Woche zu lösen sind. Bei diesen Aufgaben geht es weniger darum, ein spezielles Verfahren zu erlernen, als darum, "mathematisches Denken" zu lernen. Interessant sind häufig nicht die Lösungen, sondern die Lösungswege. Es ist das Ziel, bestimmte Wege in einer für den Studenten neuen, abstrakten mathematischen Welt zu ergründen, und dabei sind oft Kreativität und Ideenreichtum gefragt! Wohlgemerkt, Kreativität und Ideenreichtum, schon zu Beginn des Studiums. Das ist etwas, wodurch sich die Mathematik von vielen anderen Studiengängen abhebt. Die bearbeiteten Aufgaben werden abgegeben, korrigiert, bepunktet und dann in kleinen Gruppen, den sogenannten Tutorien, besprochen. Dadurch erhöht sich die Zahl der Unterrichtsstunden in der Regel auf zwölf pro Woche, zwei bis dreimal soviel Zeit sollte man
allerdings für die Vorlesungsnachbereitung und das "Spielen" mit den Übungsaufgaben hinzurechnen.
 
Das ist natürlich nur ein grober Einblick in das Mathematikstudium, und vieles was das Studium zusätzlich spannend macht, wie das Inhaltliche oder die eigenen Vorträge in Seminaren, muss ich an dieser Stelle ganz ausblenden, da ich vor allem den Aspekt der Kreativität und ebenso das tägliche Training im systematischen Problemlösen herausheben möchte. Der Umgang mit Problemen ist meines Erachtens eine der wesentlichen Fertigkeiten, die man aus dem Mathematikstudium in den Alltag hinaus trägt. Man setzt sich anders mit Problemen auseinander, zerlegt sie, betrachtet ähnliche Probleme und gibt nicht so einfach auf. Nicht umsonst sagt man, dass Mathematiker eine hohe Frustrationsschwelle haben.
 
Besonders erwähnt werden müssen auch die große Vielfältigkeit und die Freiheit in der Themenauswahl, die einem das Mathematikstudium bietet. Die moderne Mathematik besteht aus einer - für viele unerwartet - großen Anzahl von Teilbereichen: Analysis, Algebra, Geometrie,Topologie, Wahrscheinlichkeitstheorie, Numerik und vielen vielen weiteren Gebieten und Untergebieten. Das Studium unterstützt diese Vielfalt, indem es Grundlagen in vielen Bereichen vermittelt, so dass sich individuelle Interessen bilden können, und es bietet einem die Freiheit, diese Interessen verfolgen zu können und tiefer in die favorisierten Gebiete einzudringen. Außerdem ist die Betreuungsrelation, das Verhältnis von Lehrenden zu Lernenden, sehr gut:
kleine Tutorien, Seminare mit 10 bis 15 Teilnehmern und auch in den Vorlesungen, vor allem in den höheren, keine überfüllten Räumlichkeiten. Da fällt es leichter Zwischenfragen zu stellen, und der Dozent kann die Vorlesung auch mal an den Wünschen der Studierenden orientieren. Man darf bei all der Schwärmerei nicht verschweigen, dass Mathematik nicht "leicht" ist. Das Studium ist in der Regel nicht zulassungsbeschränkt, und viele Anfänger brechen das Mathematikstudium innerhalb der ersten zwei Semester wieder ab. Mathematik zu studieren ist eine Herausforderung, aber eine, die Vergnügen bereiten kann. Heute studiere ich Mathematik, weil mich die Themen, insbesondere die algebraische Topologie (wieder so ein Teilgebiet!), faszinieren, weil ich den gerade beschriebenen Studiumsalltag als sehr angenehm empfinde, weil ich eine gute Berufsperspektive sehe und weil ich immer mehr Dinge sehen möchte, die andere nicht sehen können.
 
Siegerbeitrag des im Frühjahr 2006 gemeinsam von der DMV und dem Vieweg-Verlag veranstalteten Wettbewerbs von Philip Herrmann
 
Der Beitrag ist inzwischen auch im Berufs- und Karriereplaner Mathematik des Vieweg-Verlags erschienen.