Heinrich Hemme erfindet, sammelt und erzählt Denksportaufgaben. Sein Werk über dreißig Bücher und unzählige Kolumnen. Seine Sammlung wohl eine der größten weltweit. Im Spiel mit der Mathematik entlarvt der Unterhaltungsmathematiker gerne unbewusste Denkschritte, worüber selbst sattelfeste Spezialisten stolpern. Aber auch Schüler*innen, Lehrer*innen und die Studierenden des Physikprofessors Hemme schätzen seine Finten und lassen sich auf mathematische Workouts ein. Mit seiner Lieblingsaufgabe foppte der Mathemacher des Monats freilich auch unseren Autor.

Heinrich Hemme

(Foto: Thilo Vogel)

Herr Hemme, Sie haben Physik studiert und wurden nach Forschungsarbeiten in Industrielaboren 1993 als Physikprofessor an die Fachhochschule Aachen berufen. Wie war Ihr Verhältnis zur Mathematik in Schule und Studium?

Mathematik war in der Schule mein Lieblingsfach und in der Mittelstufe das einzige Fach, in dem ich freiwillig mehr machte, als unbedingt für eine Versetzung notwendig war. Auch an der Universität beschäftigte ich mich viel und gerne mit der Mathematik. Für einen theoretischen Physiker war dies auch gar nicht anders möglich.

Außerhalb von Forschung und Lehre sind Sie bekannt für Bücher und Kolumnen aus der "Unterhaltungsmathematik". Was ist das?

Ich schreibe seit vielen Jahren Kolumnen über die Unterhaltungsmathematik für bild der wissenschaft, den Zeitungen des Aachener Zeitungsverlags, der Rheinpfalz am Sonntag und noch einigen anderen Zeitungen und Magazinen. „Unterhaltung“ und „Mathematik“ sind für viele Menschen Gegensätze, die sich ausschließen.
Als die Mathematik vor rund viertausend Jahren erfunden wurde, um technische und kaufmännische Aufgaben leichter zu bewältigen, bemerkte man, dass sie neben ihrer Nützlichkeit auch ein wunderbares Spielzeug für kluge Köpfe ist. Man erdachte Probleme, die ausschließlich der Unterhaltung dienten. Mathematische Rätsel und Plaudereien über die Mathematik bezeichnet man darum als Unterhaltungsmathematik.
Ich entdeckte die Unterhaltungsmathematik, als ich als Jugendlicher die Bücher Martin Gardners las. Als Student in den frühen 1980er Jahren gelang es mir, mathematisch zu beweisen, dass der Freitag, der 13. tatsächlich ein Unglückstag ist. Ich schrieb darüber einen Artikel und schickte ihn an ein Wissenschaftsmagazin. Er wurde auch tatsächlich veröffentlich – und bezahlt. Seitdem schreibe ich über Unterhaltungsmathematik.

Verraten Sie uns Ihre Lieblingsaufgabe?

Dies ist eine meiner Lieblingsaufgaben:

„Der Chefarzt sieht es nicht gerne, wenn jemand aus der Ärzteschaft und jemand vom Pflegepersonal miteinander ausgehen. Deshalb hat Dr. Kruse heimlich eine Verabredung in einem kleinen Café getroffen. Er hat sich einen Kaffee und sie einen Tee bestellt. Er: „Ich wundere mich, dass Sie mit einem so alten Mann wie mir ausgehen.“ Sie: „So jung bin ich auch nicht mehr. Ich werde in drei Monaten vierzig.“ Er: „Ich bin deutlich älter.“ Sie: „Wie alt sind Sie denn?“ Er: „Wenn Sie für jedes meiner Lebensjahre einen Cent nehmen, den Preis meines Kaffees dazuzählen und anschließend 20 Cent abziehen, erhalten Sie den Preis Ihres Tees.“ Ein anderer Gast hat die Unterhaltung mitgehört, aber er verwechselt, ohne es zu bemerken, die Preise vom Kaffee und vom Tee. Trotzdem kann er aus dem Gespräch Dr. Kruses Alter richtig ermitteln. Wie alt ist Dr. Kruse?“

 
Wer die Lösung nicht findet, kann mir gerne schreiben.

... sie ein wunderbares Spielzeug für kluge Köpfe ist. Heinrich Hemme


Puh, ich rechne das lieber später aus.* Sie müssen ja Hunderte, Tausende solcher Kopfnüsse kennen, um Ihre Bücher zu füllen. Haben Sie die über die Jahre gesammelt oder denken Sie sich alle selbst aus?

Ich habe 31 Bücher und etwa 1200 Artikel geschrieben. Grob geschätzt habe ich meinen Lesern und Leserinnen bisher 5000 Kopfnüsse gestellt. Viele dieser Aufgaben habe ich selbst erdacht, aber der größte Teil stammt von anderen Rätselerfindern. Ich bin ja schließlich nicht nur Autor, sondern auch Sammler. In meinen Regalen stehen etwa 2100 Bücher über die Unterhaltungsmathematik. Zusammen mit digitalem und weiterem Material ist meine Sammlung zur Unterhaltungsmathematik wahrscheinlich eine der größten weltweit.

Wen möchten Sie mit den Aufgaben erreichen? Wie reagiert das Publikum?

Ich bin kein Mathematiker und ich bin kein Lehrer. Ich muss also niemanden Mathematik beibringen und kann es mir darum erlauben, mit der Mathematik zu spielen.
Erreichen möchte ich Menschen, die Spaß daran haben, nachzudenken und sich mit mathematischen Spielereien unterhalten und auch verblüffen lassen. Das geschieht oft auch im direkten Kontakt, also bei Vorträgen in Schulen, in Hochschulen, bei Lehrerfortbildungen, ja sogar in Kindergärten.
Dabei führe ich unter anderem Schein-Beweise für die Aussagen von Lindgrens Pippi Langstrumpf.  Um Liedverse aus den Filmen mit Inger Nilsson wie „Zwei mal drei macht vier, widewidewitt...“ als Gleichung zu beweisen, muss ich die Beweisfehler gut verbergen. Wenn ich den Bluff auflöse, ist eine häufige Reaktion von Kindern und Jugendlichen: „Damit werde ich jetzt meine Eltern und meine Lehrer reinlegen!“.

Schabernack per Mathematik? Wie funktioniert das?

Wir lassen uns hereinlegen, weil wir immer unbewusst Annahmen machen, die gar nicht gefordert sind. Ich nenne diese Annahmen „Denkschwellen“ und nutze sie gezielt beim Entwerfen meiner Denksportaufgaben.
Ein Beispiel: Sam Loyd stellte 1907 die Aufgabe, neun Kreise (drei Kreise je Zeile, wie beim Ziffernblock auf der Tastatur) in einem Zug miteinander zu verbinden, ohne den Stift dabei abzusetzen. Außerdem sollte der Linienzug nur aus vier geraden Teilstücken bestehen, der Bleistift konnte folglich nur drei Mal seine Richtung ändern.
Die Meisten gehen von dem Vorurteil aus, dass die drei Knickstellen oder Richtungswechsel auf den Kreisen liegen müssen. So ist es unmöglich – doch hat Loyd das mit keiner Silbe gefordert! Lösbar ist die Aufgabe, wenn man die Knickstellen ins Freie verlegt. Das ist die Denkschwelle, die man überwinden muss.

graph1

Wenn man nicht die Mittelpunkte durchfährt – das wäre die nächste, nicht geforderte stillschweigende Voraussetzung – kann man Loyds Aufgabe auch mit einem Zug aus nur drei geraden Teilstücken lösen.

graph2

Denkschwellen sind sogar bei Spezialisten zu finden: Da haben sich Muster dann so fest eingeprägt, dass sie im Denken zur Selbstverständlichkeit werden.

Also sind MINTler*innen gar nicht automatisch die besseren Denksportler*innen?

Ich glaube nicht, dass MINTler automatisch die besseren Denksportler sind. Es gibt natürlich viele mathematische Denksportaufgaben, die sich ohne solide Mathematikkenntnisse gar nicht lösen lassen. Anderseits kann jeder intelligente Mensch, auch wenn er kein MINTler ist, mathematische Strukturen erkennen und nutzen, um damit Denksportaufgaben zu lösen.

Was ist Ihr nächstes Projekt?

Ich beschäftige mich auch intensiv mit der Geschichte der Unterhaltungsmathematik. Wenn jemand eine Sammlung deutsche Lyrik herausgibt, wird er selbstverständlich unter jedes Gedicht den Namen des Dichters setzen. Bei Denksportaufgaben ist das leider anders: Oft wiederholen sich Aufgaben in den Rätselbüchern, doch ihre Herkunft bleibt meist ungenannt. Darum versuche ich die Geschichte der Probleme so weit wie möglich zurückzuverfolgen.
Das ist oft schwierig, aber ich hatte auch schöne Erfolge: Manche Aufgabe konnte ich bis in frühe Mittelalter und andere sogar bis ins zweite vorchristliche Jahrtausend zurückverfolgen. Meine zwei bisherigen Bücher zur Geschichte der Unterhaltungsmathematik handeln von arabischen Denksportaufgaben aus dem 8. bis zum 16. Jahrhundert und von einem lateinischen Rätselbuch aus der Zeit Karls der Großen. Mein nächstes Projekt ist eine Neuausgabe eines alten armenischen Denksportaufgabenbuchs, das Anania von Schirak im 7. Jahrhundert schrieb.


* Ein fatales Versprechen, wie David Vogel (Fragen) später merkte. 

Robert Wöstenfeld und seine Kolleg_innen begeistern mit dem Wettbewerb Mathe im Advent (MiA) jährlich viele tausend Schüler_innen für die Mathematik. Ihr Anliegen: Kinder den Nutzen der Mathematik fürs Leben spielerisch erfahren lassen. Dies gelingt unter anderem dank der Wichtel und ihrer Abenteuer im Mathe-Adventskalender. Im DMV-Netzwerkbüro entstanden, ist Mathe im Advent seit dieser Spielzeit Teil der Mathe im Leben gemeinnützigen GmbH. Deren Geschäftsführer Robert gibt im Gespräch mit DMV-Redakteur David Vogel Blicke hinter die Kulissen.

Robert Wöstenfeld

(Foto: Marie Günther)

Lieber Robert, euer Projekt Mathe im Advent funktioniert ja wie ein Adventskalender, nur eben mit Geschichten rund um Weihnachtswichtel hinter den Türchen. Die Wichtel sind immer irgendwie in der Klemme und die Teilnehmer_innen können ihnen helfen – mit Mathe. Aber auch euch raucht oft der Kopf bei der Projektarbeit, besonders jetzt während der Spielrunde im Dezember. Gibt es denn auch schöne Momente?

Ja, es gibt schon viele schöne Momente im Leben eines „Oberwichtels“. Zum Beispiel, wenn die Teilnehmerzahl die hunderttausend knackt. Die Zahl läuft allerdings in den vertieften Arbeitsstunden fast unbemerkt über den Schirm. Umso mehr liebe ich deshalb den Kontakt zur „Außenwelt“. Eine Schülerin schrieb mal: ‚Ich habe es ja nicht so mit Mathe, aber bei MiA hatte ich wirklich Spaß und ich habe bemerkt, dass ich doch gar nicht so dumm bin.’ So ähnlich kommt das häufig vor. Dann weiß ich, dass wir etwas richtiggemacht haben.

Vereinzelt lassen sich die Kinder sogar so vom Wichtelkult begeistern, dass sie die Geschichten weiterspinnen und eigene Mathe-Textaufgaben für den Adventskalender entwickeln. Uns erreichten welche mit Zeichnung und sogar mit der richtigen „Besetzung“, also den passenden Wichtelcharakteren für die jeweilige Szene. Das ist großartig und es berührt mich jedes Mal! Da bleibt wirklich etwas hängen.

Was lernt man bei Mathe im Advent?

Unsere Aufgaben sollen zuerst die vielen interessanten Facetten der Mathematik sichtbar machen, für die im Lehrplan oft kein Platz ist. Schüler_innen sollen möglichst eindringlich erfahren, dass die Mathematik eine lebendige, auch für das Leben nützliche Wissenschaft ist.

Mit den Wichtelaufgaben kann man dazu auch recht gut lernen, wie man Probleme löst. Grundlegend dafür ist sowohl strukturelles und analytisches Denken, als auch freies Denken. Zudem braucht man Übersetzungskompetenz – vom Problem zum mathematischen Modell, von konkret zu abstrakt. Mit den Werkzeugen, die die Mathematik bietet, lässt sich das Modell dann durchrechnen. Wir wollen aber auch zeigen, dass es nicht reicht, eine Zahl als Lösung zu präsentieren. Es braucht auch immer eine Rückübersetzung ins Konkrete.

Wir versuchen darüber hinaus bewusst das Selbstbewusstsein zu stärken. Damit Mathe nicht einschüchtert, gehen wir sogar so weit, sie etwas hinter den Geschichten zu verstecken. Bei uns helfen die Kinder ja vordergründig den Wichteln bei ihren Problemen im Wichteldorf. Danach erfahren sie auch schon mal, dass sie gerade algebraische Topologie gemacht haben und sind verdutzt und stolz, so etwas zu beherrschen. Solche Erlebnisse können aufbauen und prägen.

... die heutige Gesellschaft dringend eine Wissenschaft des Weiterdenkens braucht. Robert Wöstenfeld


Warum funktioniert Mathe im Advent? Gibt es ein Rezept?

Ein Element ist das Storytelling. In der Wichtelwelt – unserem Vehikel – passieren skurrile und witzige Dinge. Gleichzeitig geht es dort menschlich genug zu, so dass Schüler_innen eine Essenz daraus in ihre Lebenswelt übertragen können. Wie in einer guten Seifenoper entwickeln sich zudem die Charaktere. Man fiebert mit den Wichteln mit und möchte dem ein oder anderen aus der Patsche helfen. Wie im richtigen Leben, und anders als im Unterricht, weiß man nicht, in welches Problem die Wichtel als nächstes geraten. Das macht auch die Mathematik darin spannend.

Damit den Schüler_innen diese Übertragung in die Lebenswelt gelingen kann, müssen wir schon in der Aufgabenstellung eine glaubwürdige Verbindung zu unserer Realität anlegen – und zwar eine möglichst aktuelle und alltagsnahe. Solche Verbindungen finden wir zum einen durch intensive Recherche: Klimadaten der NASA bei einer Aufgabe zum Meeresspiegel, um nur ein Beispiel zu nennen. Zudem achten wir stark darauf, dass Handlungen und Motive der Wichtel den Lebenserfahrungen der Schüler_innen entsprechen. Was nicht nachvollziehbar ist, fällt bei ihnen durch und fliegt deshalb bei uns raus. Auch für künftige Schulbücher wünsche ich mir da mehr Common Sense.

Aber wir dürfen uns auch nichts vormachen. Viele Schüler_innen sind auf die schönen Preise aus, darunter Tablets, Spielekonsolen und dieses Jahr sogar eine Klassenfahrt zur Preisverleihung. Den Spaß am „Mathemachen“ jubeln wir ihnen dann unter.

Du bist seit 2010 beim Projekt. Wie hat es sich seitdem entwickelt?

Mathe im Advent wurde im Wissenschaftsjahr 2008 eingeführt. Als Stephanie Schiemann und ich 2010 zum Projekt kamen, hatten wir im DMV-Netzwerkbüro Schule-Hochschule durch die Förderung der Telekom-Stiftung und die Zusammenarbeit mit dem DMV-Medienbüro quasi paradiesische Zustände. Wir konnten viele Ideen umsetzen, um zum Beispiel den Wettbewerb auf zwei Niveaustufen auszuweiten und das didaktische Konzept weiterzuentwickeln. In den ersten Jahren konnten wir die Teilnahmezahlen jährlich fast verdoppeln. Einige andere Wissenschaften haben dann das Potenzial wahrgenommen und selbst Adventskalender nach unserem Vorbild herausgebracht. Es gibt zum Beispiel Physik im Advent oder Krypto im Advent.

Das klingt alles sehr erfolgreich. Gab es auch Durststrecken?

Bei etwa 150.000 Teilnehmer_innen in den Jahren 2012 bis 2014 haben wir die Grenze dessen erreicht, was unsere Infrastruktur stemmen konnte. Glücklicherweise hat uns nach dem Auslaufen der DTS-Förderung das BMBF Mittel zur Verfügung gestellt, mit denen wir die gesamte Infrastruktur an die großen Teilnahmezahlen anpassen konnten. Da diese wiederum bald ausläuft, mussten wir uns etwas neues überlegen. Es hat sich also notwendigerweise vieles verändert, aber ich denke, mit der Gründung der Mathe im Leben gemeinnützigen GmbH, die MiA jetzt in Kooperation mit der DMV ausrichtet, haben wir in diesem Jahr eine solide Basis geschaffen, auf der wir Mathe im Advent erfolgreich und möglichst langfristig weiterführen können.

Auf einer Skala von Insolvenz bis Weltherrschaft: Wo steht Mathe im Leben samt (Ober-) Wichtel in einem oder fünf Jahren?

Nun ja, wenn es uns gelingt, in allen Ländern den mathematischen Advent einzuführen, ist einiges möglich... Aber Spaß beiseite. Zuerst müssen wir „Mathe im Advent“ in Deutschland finanziell etablieren. Das wird schwer genug und einige Jahre brauchen. Dann freue ich mich auf eine Weihnachtszeit in der es neben „Mathe im Advent“ auch mal wieder Zeit gibt, um mit der Familie Plätzchen backen, Musik hören und Geschenke vorbereiten zu können.

Aktualisiert am 14.12.2017

Unsere Mathemacherin des Monats März 2017, Regine Brandtner, wurde auf der MINT-Zukunftskonferenz am 12.12.2017 in Berlin auch als eine von zehn MINT-Botschafter*innen des Jahres 2017 gekürt. Wir freuen uns mit ihr und gratulieren! Zum Grußwort der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel.

 

Mathemacherin des Monats März 2017 ist Regine Brandtner vom Deutschen Zentrum für Lehrerbildung Mathematik (DZLM). Seit 2015 leitet Regine Brandtner die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des DZLM. Im Vorfeld der Jahrestagung der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik, die gerade vom 27. Februar bis 3. März in Potsdam stattfindet, trafen wir die promovierte Linguistin und Literaturwissenschaftlerin und fragten sie, wie sie damals zum DZLM gefunden hat, wie sich das DZLM aus ihrer Sicht im letzten Jahr entwickelt hat und wie das DZLM auf der diesjährigen Jahrestagung der Gesellschaft für Didaktik der Mathematik in Erscheinung tritt.

Regine Brandtner DZLM Teaser

(Foto: Melanie Kahl für das DZLM, "Eine Linguistin im Meer der Mathelehrer")

Hatten Sie schon als junger Mensch Interesse an Mathematik oder kam das erst später?

Ich war die klassische "Mädchen sind in Sprachen gut"-Schülerin, obwohl meine Mutter eigentlich auch ein Zahlenmensch ist. Mathe ist erst recht spät durch einen großartigen Lehrer mehr in den Fokus gerückt, Peter Wender am Humboldt-Gymnasium in Ulm. Er ist einfach wahnsinnig kreativ in seiner Unterrichtsgestaltung – da gab es dann auch mal MacGyver-Aufgaben – und dabei ein sehr authentischer Typ, der uns viel zugetraut hat. Auf meinen Job am DZLM hat er zum Beispiel so reagiert: "Wer hätte gedacht, dass DU mal was mit Mathe machst (ich natürlich!)." Ich denke, man kann die Bedeutung guter Lehrerinnen und Lehrer gar nicht genug betonen.

Gleichwohl haben Sie dann Linguistik und Literatur studiert. Wie haben Sie dann zum DZLM gefunden?

Ja, Literatur war einfach seit langem gesetzt. Die Linguistik hat sich mit ihrem hohen Anteil an Logik und Formeln dann aber als mathematischer herausgestellt als gedacht. Das analytische Denken und Problemlösen dabei hat mich am Ende dann tatsächlich mehr gereizt. Mit meinem Doktorvater Klaus von Heusinger zusammen habe ich mich dann neben der Promotion viel mit der Außendarstellung unseres Fachs beschäftigt, was mich schließlich zur Wissenschaftskommunikation und über verschiedene Stationen, zum Beispiel beim ZEIT Verlag, schließlich zum DZLM brachte.

... Wortspiele für Linguisten wie mich immer interessant sind... Und natürlich, weil Mathe das Denken allgemein schult und hilft, komplexe Zusammenhänge zu verstehen sowie Probleme kreativ zu lösen. Regine Brandtner


Über die Anfänge des DZLM haben wir ja schon im Jahr 2014 vom Geschäftsführer des DZLM einiges gehört. Was sind Ihre Aufgaben im DZLM und was sind 2017 die großen Themen?

Ich koordiniere die externe und interne Kommunikation am DZLM, das heißt ich vernetze einerseits die DZLM-Mitglieder an unseren acht bundesweit verteilten Standorten und in allen Bundesländern, zum Beispiel durch Formate wie unseren "Gemeinsamer Nenner"-Newsletter. Andererseits versuche ich, unsere Arbeit zu Mathematikfortbildungen und -unterricht bekannter und anschaulicher zu machen, zum Beispiel auf Tagungen, unserer Webseite und den Social-Media-Kanälen, durch Informationsmaterial, Pressemitteilungen oder Interviewpartner.

Mein Ziel dabei ist, unsere Themen mehr ins Bewusstsein zu rücken, zum Beispiel mehr Freiräume für professionelle Kooperationsformen im Kollegium zu schaffen und besonders diejenigen Lehrerinnen und Lehrer langfristig zu qualifizieren und zu unterstützen, die andere im Fach Mathematik fortbilden und beraten. Wir sprechen hier von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren.

Regine Brandtner DZLM

(Foto: Melanie Kahl für das DZLM)

Welche Maßnahmen sind hier geplant?

Mit dem Start des bundesweit ersten berufsbegleitenden Masterstudiengangs speziell für diese Zielgruppe sind wir da im Herbst 2016 einen großen Schritt weitergekommen (www.berufsbegleitende-lehrerbildung.de). Darüber hinaus haben wir aktuelle Fokusthemen festgelegt, zu denen wir unsere Erfahrung stärker bündeln wollen – zum Beispiel Sprachförderung, digitale Medien oder Heterogenität im Matheunterricht. Im Sommer geben wir zu diesen Themenfeldern forschungsbasierte Fortbildungsmaterialien heraus. Mit diesen kommentierten Modulen wollen wir Multiplikatorinnen und Multiplikatoren noch besser in ihrer wichtigen Arbeit unterstützen – und ergänzen damit unser Angebot an Fortbildungsreihen und Selbstlernplattformen.

Momentan hat ja die Gesellschaft für Didaktik der Mathematik ihre Jahrestagung in Potsdam. In welcher Form bringt sich das DZLM dort ein?

Die Universität Potsdam ist einer unserer acht Standorte, ich freue mich, dass meine DZLM-Kollegen Ulrich Kortenkamp und Christian Dohrmann die Tagung in diesem Jahr organisieren (nächstes Jahr ist dann unser Paderborner Standort dran). Wir werden mit einem Infostand vor Ort sein und wollen die Gelegenheit wieder für den Austausch nutzen – am Lehrertag, an dem wir verschiedene Workshops und einen Vortrag anbieten, aber auch in unseren beiden Sektionen zu Fortbildungen im Primar- und Sekundarbereich. Alle DZLM-Beiträge findet man hier.

Wann und wo begeht das DZLM dieses Jahr seine Jahrestagung und auf welche Programmhöhepunkte können sich die Lehrer*innen dort freuen? Können sich Interessierte noch anmelden?

Unsere mittlerweile sechste Jahrestagung findet dieses Mal am 23. September 2017 in Saarbrücken statt, gemeinsam mit dem 7. Tag des Mathematikunterrichts an der Universität des Saarlandes. Die Anmeldung ist ab April möglich. Aber auch für unsere kostenlosen Bundestagungen speziell für den Primar- und den Sekundarbereich im Mai und Juni gibt es noch ein paar Plätze. Besonders wichtig ist uns bei diesen Formaten, den Austausch zwischen Forschung und Praxis weiter zu stärken – auch über Bundesländergrenzen hinweg: Was brauchen Multiplikatorinnen und Multiplikatoren, wie können wir sie noch besser unterstützen, was können wir voneinander lernen? Auch in die neuen Fortbildungsmaterialien kann man dort Einblicke bekommen. Alle Veranstaltungen findet man hier.

 

Sylvia und Thomas Tressel sind ein überaus engagiertes, junges Lehrerehepaar - beide mit dem Unterrichtsfach Mathematik und den Zweitfächern Französisch bzw. Englisch. 2016 haben sie zusammen an ihrer Schule dem Friedrich-Schiller-Gymnasium in der Schillerstadt Marbach 19 Kollegen mit über 806 Schülerinnen und Schüler zum Mitspielen bei „Mathe im Advent“ motiviert. Das war sensationell! Die Schule war damit die engagierteste Schule bei „Mathe im Advent 2016“. Stephanie Schiemann vom Netzwerkbüro Schule-Hochschule sprach mit ihnen.

Sylvia und Thomas Tressel

(Foto: privat)

Wie möchten Sie die jungen Menschen in der Schule für die Mathematik gewinnen? Haben Sie ein spezielles Konzept? 

Uns ist es sehr wichtig, sowohl den schwächeren wie auch den leistungsstärkeren Schülerinnen und Schülern an unserer Schule etwas im Fach Mathematik zu bieten. Deshalb legen wir an unserer Schule großen Wert auf äußere und innere Differenzierung. Aufgrund der Größe unserer Schule – mit 2.300 Schülern, eines der größten Gymnasien Deutschlands –, ist es möglich, als äußere Differenzierung Intensivierungskurse für die schwächeren Schülerinnen und Schüler zusätzlich zum normalen Fachunterricht anzubieten. Darüber hinaus gibt es auch eine kompakte, zielgerichtete Nachhilfe von Schülern für Schüler während der Sommerferien, die sogenannte Sommerschule. Auch für die stärkeren Schüler der Oberstufe gibt es Zusatzangebote, wie z.B. das zusätzliche zweistündige Vertiefungsfach „Mathe Plus“ oder „Darstellende Geometrie“. Darüber hinaus gibt es auch einen Hochbegabtenzug.
Parallel legen wir während der Unterrichtsstunden viel Wert darauf, möglichst vielen Schülerinnen und Schülern Erfolgserlebnisse zu verschaffen und ihnen die Bedeutung der Mathematik für unsere Gesellschaft an möglichst lebensnahen und praxisrelevanten Beispielen nahe zu bringen. Aber auch die Schönheit mathematischer Beweise kommt in unserem Unterricht nicht zu kurz. Wir unterrichten beide sehr gerne Mathematik und versuchen, soviel wie möglich von unserer Begeisterung für das Fach auf die Schülerinnen und Schüler zu übertragen. Das finden wir, ist das Wichtigste.

Können Sie uns beispielhaft eines ihrer Mathematikprojekte beschreiben?

Herr Tressel: Im letzten Schuljahr habe ich mit meinen Schülerinnen und Schülern ein Erklärvideo zum Lösen von quadratischen Gleichungen im Anschluss an die entsprechende Unterrichtseinheit gedreht. Dieses wurde anschließend auf unserer Schulhomepage veröffentlicht. Die Klasse hat die Inhalte für das Video selbstständig aufbereitet und auf diese Weise dieses wichtige Thema nochmals gründlich durchdrungen. Im Vorfeld hatten wir bereits vorhandene Erklärvideos auf YouTube, unter anderem von Dorfuchs, kritisch analysiert. Es hat den Schülerinnen und Schülern viel Spaß gemacht, auf diese Weise kreativ und produktiv mit dem Unterrichtsstoff umzugehen.

Auf dem MNU-Bundeskongress in Hamburg sind Sie Herr Tressel wegen ihres innovativen Mathematikunterrichts ausgezeichnet worden. Worum ging es da?

Hierbei ging es um eine anwendungsbezogene Unterrichtsstunde zum Thema „Wachstumsvorgänge“, in der wir mithilfe der Modelle des beschränkten und logistischen Wachstums die Einspielergebnisse von berühmten Kinofilmen modelliert haben. Daraus erstellten wir dann eine Prognose für das damals noch unbekannte Einspielergebnis eines brandaktuellen Films, für den erst die entsprechenden Daten der ersten drei Wochen vorgelegen hatten. Das Thema „Filme“ hat die Schülerinnen und Schüler sehr angesprochen und die Auswertung authentischer Daten hat ihnen die Praxisrelevanz der Mathematik aufgezeigt. Interessant war vor allen Dingen die Diskussion, welche Gründe es dafür geben kann, dass für manche Filme eher ein beschränktes Wachstumsmodell geeignet ist, während auf andere Filme eher das logistische Modell passt. Handelt es sich z.B. um Romanvorlagen oder Fortsetzungsfilme oder wurde im Vorfeld besonders viel Werbung für einen Film gemacht, sind die meisten Besucher in der ersten Woche zu erwarten und die Einspielergebnisse nehmen dann von Woche zu Woche ab. Muss sich ein Film erst herumsprechen, steigt die Besucherzahl eher wie bei der Verbreitung eines Gerüchts, also logistisch, an.

... es ohne diese sehr alte und sich dennoch ständig weiterentwickelnde Wissenschaft unsere moderne Gesellschaft nicht geben würde. Sylvia und Thomas Tressel


Wie sind Sie auf „Mathe im Advent“ aufmerksam geworden?

Herr Tressel: Während meines Referendariats vor ca. 5 Jahren hat mich eine Kollegin an meiner damaligen Schule auf den Wettbewerb aufmerksam gemacht. Sie hatte den Wettbewerb damals bereits mehrfach mit ihren Klassen durchgeführt.
Frau Tressel: Während meines Referendariats, das ich auch am FSG in Marbach absolviert habe, haben fünf Schüler meiner damaligen 9. Klasse am Wettbewerb „Mathe im Advent“ mitgemacht. Darüber hinaus hat mich auch ein Kollege, der sich um die Mathematikwettbewerbe kümmerte, auf diesen Wettbewerb angesprochen.

Wie haben Sie ihre Kolleginnen und Kollegen motiviert und was hat Sie an dem Wettbewerb besonders gereizt?

Wir fanden die Idee sehr reizvoll, Knobelaufgaben in nette und weihnachtliche Geschichten zu verpacken und mittels der spielerischen Kalenderform anzubieten. Darüber hinaus lockt die Aussicht auf einen der zahlreichen Gewinne.
Wir haben die Kolleginnen und Kollegen der Fachschaft über ein entsprechendes Schreiben informiert, in dem wir auch die erwarteten Lerneffekte durch eine Teilnahme bei „Mathe im Advent“ hervorgehoben haben. So sind wir überzeugt davon, dass die Aufgaben nicht nur die Motivation für das Fach Mathematik erhöhen können, sondern auch das logisch-mathematische Denken schulen. Die Notwendigkeit, jeden Tag ein Türchen zu öffnen und am Ball zu bleiben, leistet unserer Meinung nach auch einen großen Beitrag zur Entwicklung der Selbstdisziplin und Ausdauer der Schülerinnen und Schüler. Mithilfe dieser Argumente konnten wir unsere Kolleginnen und Kollegen für den Wettbewerb gewinnen. Ihnen sei an dieser Stelle auch noch einmal ein großer Dank dafür ausgesprochen, dass sie diese Anregung umgesetzt und ihre Schülerinnen und Schüler für die Teilnahme am Wettbewerb motiviert haben. Die Schulleitung hat es uns zudem dankenswerterweise ermöglicht, den Wettbewerb für unsere Schülerinnen und Schüler kostenfrei anzubieten, indem die für unsere große Schule sehr attraktive Schulflatrate bezahlt wurde.

Was sind ihre Erfahrungen mit „Mathe im Advent“? Haben Sie einzelne Aufgaben im Unterricht thematisiert? Wie ist das angekommen?

Unsere Erfahrungen sind sehr positiv. Die Registrierung war sehr einfach und selbsterklärend, womit sich der Aufwand für die Kolleginnen und Kollegen in Grenzen hielt. Auch der technische Support hat bei Fragen immer direkt geholfen. Die Rückmeldungen von Schülerseite aus waren ebenfalls sehr positiv. Schön fanden wir insbesondere, dass auch viele Schülerinnen und Schüler mit anfänglichen Bedenken am Wettbewerb teilgenommen haben und im Verlauf dann sogar Spaß am Lösen der Aufgaben entwickelt haben Sehr gelungen finden wir auch, dass die Lösungen zu den Aufgaben, die oft noch zusätzliche Hintergrundinformationen für interessierte Schülerinnen und Schüler liefern.

Wir haben die Schülerinnen und Schüler im Unterricht öfters auf den Wettbewerb angesprochen, um zu erfragen, wie sie mit den Aufgaben zurechtkommen und wie regelmäßig sie die Fragen beantworten. Dabei kam es des Öfteren zu interessanten Diskussionen über die Lösungen der Aufgaben vom Vortag, denn die Schülerinnen und Schüler sind sich natürlich nicht immer einig gewesen. Ein Schüler hat z.B. berichtet, dass er einen ganzen Abend mit seinen Eltern das grafentheoretische Spiel „Sprouts“ aus „Mathe im Advent“ gespielt hat, in dem es darum ging, Punkte geeignet mit Linien zu verbinden. Auch in den großen Pausen (direkt vor dem Mathematikunterricht) haben sich die Schüler über die Aufgaben unterhalten und teilweise heftig über die mathematischen Inhalte diskutiert.

An Ihrer Schule laufen sehr viele verschiedene Angebote, auch innerhalb der Mathematik. Wie würden Sie „Mathe im Advent“ einordnen? Wollen Sie noch einmal mitmachen?

Im letzten Schuljahr hat unsere Mathe-Fachschaft beschlossen, die Teilnahme unserer Schülerinnen und Schüler an Wettbewerben, zu verstärken. Neben der Teilnahme an der Mathematik-Olympiade, die für die Leistungsspitze konzipiert ist, möchten wir durch die Teilnahme an Wettbewerben wie dem Känguru-Wettbewerb, Mathematik ohne Grenzen und nun auch „Mathe im Advent“ die breitere Masse der Schülerinnen und Schüler für Mathematik begeistern. „Mathe im Advent“ passt also wunderbar in unsere „Wettbewerbsoffensive“ und wir beabsichtigen selbstverständlich, auch im nächsten Schuljahr wieder teilzunehmen.

Wie haben Sie beide zur Mathematik gefunden? Gab es da ein bestimmtes Erlebnis, ein Wettbewerb oder eine Person?

Während unserer Schulzeit waren die Wettbewerbe leider noch nicht so sehr verbreitet. Wir fanden dennoch schon während unserer Schulzeit Mathematik spannend, da man im Gegensatz zu manch anderen Fächern hier nicht nur vorhandenes Wissen vorgekaut bekommt, sondern alle Gedankenschritte selbst nachvollziehen und auch individuelle neue Lösungswege finden kann. Die Zusammenhänge und Strukturen, die man selbst entdecken kann, haben uns beide schon damals sehr fasziniert.