MathemacherGebertRichter01Jürgen Richter-Gebert beim Bau eines Polyedermodells aus Kleiderbügel. Foto: Astrid Eckert/TUM
Es gibt Forscher*innen, die Ihre Wissenschaft „im Elfenbeinturm" betreiben und Forscher*innen, die an die Öffentlichkeit mit ihren Ideen und Erfindungen gehen, weil sie meinen, damit ließe sich mehr ausdrücken und bewirken. Einer davon ist der diesjährige Communicator-Preisträger Jürgen Richter-Gebert. Wo der Forscher die Mathematik verortet, ist Hauptthema des folgenden Gesprächs mit Beate Klompmaker. 

Herr Richter-Gebert, ich gratuliere Ihnen herzlich zum Communicator-Preis 2021. Dieser, mit 50.000,-€ dotierte Preis, ist der wichtigste Preis im Bereich der Wissenschaftskommunikation in Deutschland. Mit ihm zeichnet die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Stifterverband seit mehr als 20 Jahren Menschen aus, die sich um den öffentlichen Dialog mit der Wissenschaft besonders verdient gemacht haben. Welche Formate haben Sie als Forscher, Entwickler, Lehrender und Autor an der Schnittstelle Mathematik und Öffentlichkeit entwickelt? Wofür werden Sie mit dem diesjährigen  Communicator-Preis ausgezeichnet?

Die Jury bezog sich in Ihrer Laudatio auf meine verschiedenen Aktivitäten der letzten ca. 20 Jahre und da kommt dann eine ganz schön lange Liste zusammen. Viel „Reales", viel „Virtuelles” und einiges an der Schnittstelle der beiden Welten. Hier ein paar Auszüge: Da gibt es die Mathematik Ausstellung ix-quadrat, die ich seit 20 Jahren am TUM Campus Garching betreibe. Angegliedert daran viele Workshops, Vorträge und Performances. Exponateentwicklungen für andere Ausstellungen (das MiMa in Oberwolfach, das Deutsche Museum in München, die OpenSource Ausstellung IMAGINARY, das MoMath in New York, die Ausstellung LaLaLab zu Mathe und Musik,…). „Cinderella” das Autorensystem zum Erstellen von Mathematikvisualisierungen (seit den 1990er Jahren unter anderem in Kollaboration mit Ulrich Kortenkamp). Viele Apps zum Visualisieren von Mathematik oder an der Schnittstelle von Mathematik zu anderen Bereichen (z.B. Kunst und Musik). Anlässlich des Corona Lockdowns die „Mathe gegen Langeweile” Seite mathebasteln.de . Für die universitäre Lehre rund 180 Unterrichtsvideos in den letzten drei Semestern und das Portal Mathe-Vital.de. Für den Einsatz im Unterricht einige gemeinsame Projekte mit der TUM School of Education (z.B. ein interaktives Buch zum Thema Bruchrechnen). Natürlich ergeben sich einige Synergien zwischen den einzelnen Projekten, sonst wäre das gar nicht schaffbar.

Wer hat Ihre Leidenschaft zur Mathematik als Erste oder als Erster geweckt? Welche Personen sind Ihre mathematischen Vorbilder?

Da gibt es natürlich zu unterschiedlichen Lebens-Zeiten unterschiedliche Personen. Als Kind waren es die Querschnitte Sendungen von Hoimar von Ditfurth, die mich restlos in den Bann gezogen hatten. Dann eine fast komplette Sammlung der Kosmos Experimentierkästen (danke an meine Eltern für die Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke). Später waren es viele Physik Nobelpreisträger (natürlich der Klassiker Einstein, aber auch Leute wie Max Born, oder Richard Feynman) und letztlich bin ich bei der Mathematik gelandet da ich dachte „Die steckt in jeder Wissenschaft, da machst Du nix falsch, wenn Du Dich darauf konzentrierst”.

… da alles so schön zusammenpasst!

Bei Ihrem enormen Schaffenspensum wirken Sie auf mich wie der Prototyp eines „unermüdlichen Forschers“. Wie sieht ihr Arbeitsrhythmus aus? Wann kommen Ihnen die besten Ideen?

Ich fang erst einmal mit dem „Wann nicht” an: Ich hatte noch niemals eine gute Idee im Büro! Dafür aber sehr viele beim Spazierengehen, morgens im Halbschlaf und beim Beschäftigen mit ganz anderen Dingen. Diese Ideen gilt es dann in eine Ecke des Gehirns abzulegen, wo man sich später wieder gut dran erinnern kann (man kann so etwas trainieren). Und ja, Arbeitsrhythmus, ganz schwieriges Thema. Morgens Verwaltung, nachmittags Lehre und Schreiben, nachts Programmieren und Denken. Wichtig ist aber, dass sich all die Produktivität immer in einen Fluß einbettet. Am liebsten arbeite ich konzentriert mehrere Tage an einer Sache und danach an der Nächsten. Geht leider nicht immer.

Die Jury lobte Sie als jemanden, der die „Wirkmacht und Schönheit der Mathematik für unterschiedliche Zielgruppen erlebbar macht“. Bei Albrecht Dürer und Leonardo Da Vinci ging es bereits vor 500 Jahren um Proportion und Perspektive, um Anschaulichkeit und Schönheit mathematischer Modelle und Zusammenhänge. Die Schönheit der Mathematik spiegelte sich hier hauptsächlich in der Malerei und der Baukunst. Wo befindet sich für Sie der aktuelle Schauplatz der Mathematik, präsentiert sie ihre Schönheit beispielsweise in der virtuellen Realität?

Ja, über diese Frage könnte man ein ganzes Buch schreiben. Die Antwort ist unumgänglich vielschichtig. Mathematische Schönheit findet letztlich oftmals im Kopf ihren eigentlichen Platz. Und zwar nicht in meinem, sondern in den Köpfen all der Leute die etwas als mathematisch schön empfinden. Ich nenne es oft das überraschende Wunder des Zusammenpassen. Das sieht man nicht immer gleich sofort, sondern diese Schönheit zu erkennen muss man ein wenig lernen. Letztlich muss man das in Kunst und Musik auch an vielen Stellen.
Ich sehe mich (und meine Aktionen) an dieser Stelle ganz oft als „Augenöffner”; als die Person, die Materialien schafft, mit deren Hilfe man plötzlich strukturelle Dinge sehen kann, die man vorher einfach nicht wahrgenommen hat. Ich muss jetzt mal mein Lieblingszitat von Felix Klein loswerden. Der schrieb 1925 über die intensive mathematische Modellbauzeit im 19. Jahrhundert: „Wie heute, so war auch damals der Zweck des Modells, nicht die Schwäche der Anschauung auszugleichen, sondern eine lebendige, deutliche Anschauung zu entwickeln ein Ziel, das vor allem durch das Selbstanfertigen von Modellen am Besten erreicht wurde.” Wenn ich Visualisierungen für etwas schreibe oder Modelle für Ausstellungen baue, dann geht mir das oft genau so. Und dabei entdecke ich plötzlich ganz viel Schönheit, die ich vorher selbst nicht kannte. Es ist spannend, diese dann weiter zu geben.

Vor zehn Jahren wurden Sie mit dem Ars Legendi-Preis für exzellente Hochschullehre ausgezeichnet. Ihre Seminare an der Universität sind online auf einer Plattform zu finden. Warum finden Sie es heutzutage wichtig Wissen kostenlos zur Verfügung zu stellen?

Ich habe dazu einen ganz pragmatischen Ansatz. Die Vorlesungen sind aus einer ganz bestimmten Situation heraus entstanden. Ich habe viel Mühe in die Vorlesungen gesteckt. Und viele Studenten haben mir zurückgemeldet, dass man damit gut lernen kann. Von daher sehe ich keinen Grund die Materialen nicht zur Verfügung zu stellen. Immerhin sind zwei komplette Vorlesungszyklen zur Linearen Algebra und zur Projektiven Geometrie entstanden. Tatsächlich denke ich, dass man im Zeitalter der mehr und mehr gelebten Digitalität einige Grundkonzepte in der Lehre neu überdenken muss.

Innerhalb der Gaußvorlesung, die jährlich zweimal von der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) organisiert wird, halten Sie am 6. Juli 2021 einen Vortrag vor der Hauptrednerin, der Mathematikerin Maryna Viazovska (EPFL Lausanne), deren Thema "The Leech Lattice" ist. Sie halten zuvor einen Vortrag mit dem Titel „Spaziergänge in der vierten Dimension“. Der Titel wirkt auf mich erzählerisch. Der Ansatz des Storytellings wird im Wissenschaftsjournalismus immer häufiger verwendet. Nutzen Sie ihn auch um Laien die vierte Dimension zu erklären?

Storytelling und Metaphern halte ich ganz wichtig in der Wissenschaftskommunikation. Letztlich vergisst man all zu oft, das hinter der Wissenschaft auch Menschen, mit Geschichte und Geschichten stecken. Einen gewissen Fundus am Stories rund um spannende Themen zu haben, macht einfach auch beim Vortragen Spaß (Wie ging es Hamilton, als er die Quaternionen entdeckte? Warum wurde Sophus Lie als Spion verhaftet? Warum gab es Mathe Turniere in der Renaissance?).  Auch persönlich erlebte Stories können da sehr spannend sein. Eine Art des Storytellings, die ich allerdings praktisch nie verwende ist das Einführen von Hilfs-Charakteren wie Comic Figuren die Teil einer Mathe-Geschichte erzählen. Das kann ich nicht und will es auch nicht. Ich finde das das echte Leben schon spannend genug ist. (Trotzdem kann ich an dieser Stelle den “Kleinen Mathe Engel OHO” von Vanessa Krummeck – mittlerweile Vanessa Landgraf– sehr empfehlen, wenn man Kindern Symmetrie beibringen will).

Wenn Sie uns auf Ihren Spaziergängen in der vierten Dimension mitnehmen, wo geht‘s entlang und vor allem: was sehen wir unterwegs? Gemeint ist hier ja nicht die vierte Dimension der Zeit, die Albert Einstein in seinen physikalischen Theorien thematisiert.  

Ich zeige gerne schöne Dinge. Kürzlich, als ich für meine Videovorlesungen Materialien über 4-dimensionale Polyeder vorbereitet habe, habe ich selbst ein paar Dinge über das-120 Zell (eine Art 4-dimensionaler platonischer Körper) gelernt, die ich vorher noch nicht kannte. Ein paar davon möchte ich weitergeben. D.h. es wird ein wenig um die Frage gehen, was sind die 4-dimensionalen Analoga von Kugel, Würfel und Dodekaeder und was haben die miteinander zu tun. Ok, für Fachleute: „Diskrete Hopf-Faserungen im Seitenverband des 120-Zells”. Und dazu wird es ganz viele Animationen und (viel zu wenig) Formeln im Vortrag geben. Erstaunlicherweise hat das sogar etwas mit einem 11-Meter hohen Turm aus Bambusstangen zu tun, den wir 2008 im Jahr der Mathematik mit vielen Schülern gebaut haben. Nur wusste ich das damals noch nicht.

Seit mehr als einem Jahr befinden wir uns in der Corona-Pandemie und sehen täglich in den Medien Statistiken. Sie werden in verschiedenen Darstellungsformen präsentiert. Gibt es hier in der Darstellung von Mathematik bestimmte Trends zu verzeichnen?

Zu Beginn der Pandemie habe ich mich sehr gefreut, dass es hervorragende interaktive Webseiten in Tageszeitungen gab, die veranschaulicht haben, was exponentielles Wachstum ist. Tatsächlich finde ich das durch die interaktiven Möglichkeiten dieser Zeit die beiden Themen „Design” und „Wissenschaft” immer mehr zueinander finden. Und das ist sehr gut so.

Das Netzwerkbüro der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (DMV) ist zuständig für den Übergang von der Schule an die Hochschule. Können Sie mir erläutern, woran es liegt, dass in Deutschland Mathematiklehrkräfte im internationalen Vergleich weniger Fortbildungen machen? Liegt dies daran, dass es zu wenig Fortbildungen gibt, man sie nicht übersichtlich gebündelt findet oder gibt es eine geringere Nachfrage seitens der Lehrkräfte?

Das ist jetzt eine Frage, in der ich zu wenig drin bin, um ganz fundiert antworten zu können. Dazu wären einige Kollegen aus der Mathe-Didaktik sicher berufener. Aber es gibt sehr spannende Studien zu der Thematik, die vom DZLM (Deutsches Zentrum für Lehrerbildung Mathematik) gemeinsam mit der Telekom Stiftung durchgeführt wurden. Diese liegen leider schon etwas länger zurück und eine Neuerhebung wäre sinnvoll. Ich denke, dass in der aktuellen Situation zunächst einmal eine aktive Kommunikationskultur zwischen den Personen der Zielgruppe und den Anbietern von Fortbildungen wichtig ist. Themenschwerpunkte sollten auf beiden Seiten abgeglichen werden. Ort- und Zeitrestriktionen sind sicherlich auch ein wichtiger Faktor, der zu beachten ist. Ich denke, dass sich in einer Zeit, in der wir uns zunehmend daran gewöhnt haben, auch digital zu kommunizieren, sich auch ganz neue Möglichkeiten für das Anbieten spannender Inhalte über interaktive Internet gestützte Formate ergeben.

Wie ist es möglich, einen Imagewandel des Faches Mathematik an Schulen herzustellen, damit Eltern und Kindern spielerischer und unvoreingenommener an Mathematik herangeführt werden können und dieses Lernen leichter fällt?

Ich möchte hier mit einem Zitat von Wilhelm Schipper  (2001) antworten, das ich vor 20  Jahren mal auf einem Bildungsserver aus Rheinland-Pfalz gefunden habe: „Ein inhaltlich offener Mathematikunterricht verzichtet auf starre Detailfestlegungen, z.B. auf fixe Zahlenraumgrenzen oder auf unflexible Zuweisungen von Unterrichtsinhalten an bestimmte Schuljahre. Er reduziert die Anzahl der Routineübungen und ersetzt sie zunehmend durch herausfordernde Aufgaben. Er gibt Gelegenheit für ein ‘Mathematiklernen in Sinnzusammenhängen’ und stellt beziehungshaltige und fortsetzbare Probleme in den Mittelpunkt des Unterrichts. In einem methodisch offenen Unterricht gibt es keine vorgeschriebenen, einheitlichen Rechenverfahren für alle Kinder. Vielmehr werden Aufgaben bewusst so ausgewählt, dass sie unterschiedliche Zugänge und Lösungswege erlauben. Die individuellen Vorgehensweisen der Kinder werden gewürdigt. Insgesamt wird die Utopie eines angeleiteten Lernens im Gleichschritt ersetzt durch Sensibilität für die individuellen Lernwege der Kinder. Fehler sind in einem solchen Unterricht Chancen für das Weiterlernen, nicht nur Grundlage für die Notengebung, erst recht kein Zeichen für Dummheit oder Faulheit.” 

Ich sehe in Ihren Ornament-Apps in denen es um die Gestaltung von räumlichen Objekten geht, wie Sie versuchen niedrigschwellig und partizipativ das Interesse an Formen, Strukturen, Ornamentik etc. zu wecken. Mandala-Ausmalbücher erfreuen sich bei Kindern und Erwachsenen gerade großer Beliebtheit. Dargestellt sind komplexe, symmetrische oder asymmetrisches Muster, die im Mikrokosmos ein Universum darstellen wollen. Mandalabücher werden häufig als Hilfsmittel in Stresstherapien verwendet. Auf der anderen Seite gibt es in der Architektur und dem Produktdesign der Moderne es eine große Skepsis gegenüber dem Ornament. Welche Funktion hat für Sie das Ornament?

Die Ornamente App ist wohl das mit Abstand überraschendste und spannendste Projekt, das ich in den letzten Jahren begonnen habe. Und vielleicht überraschenderweise das mit der allergrößten Reichweite. Ich kenne viele Personen, die berichtet haben, dass sie über die App ihre mathematische Seite in sich entdeckt hätten, von der sie selbst noch gar nicht wussten. Und das über ein Spektrum, das vom 4-jährigen Kind bis hin zum Profidesigner reicht. Ich hatte vor einer Weile in den DMV-Mitteilungen ausführlicher über das Projekt und seine vielen Facetten berichtet. Ich hab mir für mich selbst die Theorie zurecht gelegt, dass das Ornamente Zeichnen den kreativen und den strukturellen Teil in unserem Gehirn zusammenbringt (daher auch die manchmal tiefenentspannende Wirkung). Gleichzeitig, passiert dabei offensichtlich so viel Mathematik, dass man gar nicht anders kann, als zumindest zum Teil strukturell zu denken. Und für mich selbst ist das Projekt  eine konstante technische Herausforderung. In der neuesten Version habe ich ganz neue Algorithmen zur Berechnung hyperbolischer konformer Verformungen auf der Graphikkarte eingebaut. Klingt technisch, sieht aber wunderschön aus.

Ist die Ornament-App für Sie Zeitvertreib, Mathematik oder Kunst?

Oh, je, noch eine Frage, die man mit einem Buch beantworten müsste. 3 x Ja! Zeitvertreib, Mathematik und Kunst! Und noch so einiges mehr.

Zu Ihrem Foto: Was für ein Objekt gestalten Sie gerade auf dem Foto mit den Kleiderbügeln, wird das Objekt in Ihrem Mathematik-Museum ausgestellt?

Man sieht da einen Teil eines Polyedermodells, das wir auf  im Rahmen von Workshops aus Kleiderbügeln bauen. Das Erstaunliche ist, dass sich mit Methoden aus der Starrheitstheorie und Tensegrity aus Kleiderbügeln räumliche Modelle bauen lassen, die ohne zusätzliche Materialien, alleine aus den inneren Spannungskräften heraus, ihre 3-dimensionale symmetrische Form bewahren. Das ist wie bei einem Geodesic Dome à la Buckminster Fuller. Zum Abschluss eine kleine hands.on Challenge: Man nehme 24 Draht-Kleiderbügel (die Sorte aus der Reinigung) und versuche damit ein vollständig stabiles würfelförmiges Objekt zu bauen... ohne zusätzliche Hilfsmittel.
Wir verwenden sowas als Weinregal.

Mathemacher RichterGebert02

Foto Kleiderbügelobjekt: J. Richter-Gebert.

 

Weitere Links:
https://www.ma.tum.de/de/schulportal/ix-quadrat.html
http://www.mathe-vital.de/ 
https://interactive.app.tum.de/
https://imaginary.github.io/applauncher2/?lang=de 
https://apps.apple.com/de/app/id1175925608
http://science-to-touch.com/en/iOrnament.html 
https://apps.apple.com/de/app/musica-math-meets-music/id1466301336

Videos zur Schönheit der Mathematik hier:
https://www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/campus/talks/campus-talks-richter-gebert-100.html

BrigitteForster Heinlein WeichselbaumerBrigitte Forster-Heinlein. Foto: WeichselbaumerBrigitte Forster-Heinlein, Professorin für Angewandte Mathematik der Universität Passau, ist unsere Mathemacherin der Monate Mai und Juni 2021. Sie hat im Frühjahr 2021 von einer Jury aus Wissenschaftler*innen und Studierendenden den Ars legendi-Fakultätenpreis in Mathematik zugesprochen bekommen, die feierliche Übergabe erfolgt am 10. Juni. Darüber hinaus organisiert sie gerade die gemeinsame Jahrestagung von Deutscher Mathematiker-Vereinigung und Österreichischer Mathematischer Gesellschaft, die vom 27. September bis zum 1. Oktober 2021 online stattfinden wird, siehe www.uni-passau.de/dmv-oemg-2021/startseite/ 

Sie haben den diesjährigen Ars legendi Fakultätenpreis für Mathematik erhalten. Können Sie uns bitte als erstes erzählen für welches Projekt Sie ausgezeichnet wurden? 
Im Rahmen von Seminaren und Abschlussarbeiten führe ich meine Studierenden durch die mathematische Theorie bis hin zur Konstruktion eines greifbaren Ausstellungsstücks. Mit der Aussicht auf ein sichtbares Werk in unserem Passauer Mathe-Museum motiviere ich meine Studierenden zu einer sehr intensiven Auseinandersetzung mit der mathematischen Aufgabenstellung und der didaktischen Aufbereitung. Für dieses inzwischen durch Drittmittel-Projekte geförderte und evaluierte Lehrkonzept wurde ich nun ausgezeichnet.

Von welchen Grundprinzipien lassen Sie sich bei der Lehre leiten? 
Mein Leitspruch ist „Fördern durch Fordern“. Im Studium wurde ich selbst mit dieser Haltung angespornt und bin gut damit gefahren. Eine hohe Messlatte anlegen, bei der sich die Studierenden strecken müssen; eine Messlatte, die attraktiv ist, und nicht unerreichbar.

Wie motivieren Sie Ihre Studierenden?
Vielen Studierenden fällt die Arbeit mit schwierigem Stoff leichter, wenn sie verstehen, wo man ihn konkret anwenden kann. In meinen Jahren an der EPFL in der Schweiz und am Helmholtz-Zentrum München habe ich mit Ingenieurinnen, Informatikern, Biologen und Medizinerinnen zusammengearbeitet und sehr viele praktische Mathematik-Anwendungen erlebt, die ich jetzt an meine Studierenden weitergebe. Das macht die Mathematik lebendig.

Wie machen Sie jungen Menschen die Mathematik schmackhaft?
Mir macht Spaß, was ich mache. Und meine Begeisterung gebe ich weiter: Im Mathe-Museum hole ich mit meinen Studierenden Schulklassen an unsere Universität. Wir zeigen den Jugendlichen die von den Studierenden gebauten Ausstellungsstücke und lassen sie experimentieren. Die Schülerinnen und Schüler finden so schnell heraus, dass Mathe viel breiter ist, als was die Schule in den knappen Schulstunden vermitteln kann. Wir veranschaulichen zum Beispiel am Tornado, am Lissajous-Automaten oder an der Abtasttrommel, dass Mathematik konkrete Anwendungen hat. Mir ist wichtig das Selbstvertrauen in die eigenen Leistungen zu fördern. Die Aussage „Du kannst mehr Mathe als du denkst“ aus dem Jahr der Mathematik 2008 finde ich immer noch einen hervorragenden Slogan. 

Foto von Katrina Jordan Uni PassauFoto: Katrina Jordan

Und was sagen Sie jungen Leuten, die nicht ins Passauer Mathe-Museum kommen können?
Wo man hinschaut, steckt Mathematik drin: In der Bewegung des Planetengetriebes der Küchenmaschine, in den Verfahren, mit denen wir unsere Fotos bearbeiten, in den Vorhersagen zur Pandemie. Die Mathematik ist die Sprache, mit der man unsere moderne Welt verstehen kann. Mathematik ist das Handwerkszeug für Wissbegierige.

Was hat bei Ihnen damals den Ausschlag für das Mathematik-Studium gegeben? 
Ich wollte Chemie, Elektrotechnik oder Mathematik studieren. Es wurde dann Mathematik mit Nebenfach Elektrotechnik, weil mich der Besuch eines Tags der Mathematik an der Technischen Universität München überzeugt hat. Übrigens, ungefähr die Hälfte der Mathematik-Studierenden war damals schon weiblich. 

Und heute – dreht sich bei Ihnen das ganze Leben um Mathematik?
Mit meiner Familie drehen sich vor allem die Pedale. Wir mögen lange Radl-Touren. Die können wir trotz der Pandemie gut unternehmen und entdecken immer wieder neue schöne Ecken in der Natur, weit abseits von Orten und Straßen. 

… man damit viele Sachverhalte so herrlich präzise ausdrücken kann.

Die Fragen stellte Thomas Vogt.

2021 Mathematcher David HörmeyerDie virtuelle Lernhilfe ANTON-APP ist in Zeiten des Home-Schoolings sehr beliebt. Und das gleichermaßen bei Kindern, Eltern und Lehrkräften. In der kostenlosen App können Lehrer*innen Schulklassen anlegen, Aufgaben zuweisen und Lernfortschritte verfolgen. Das Gaming ist besonders bei den Kindern beliebt. David Hörmeyer, Mitbegründer und Geschäftsführer der ANTON-App, das als Start-Up-Unternehmen begann, erklärt, warum Eltern und Lehrkräfte mehr Zeit für ihre Kinder haben, wenn sie die App nutzen.

 

 

2021 MathemacherAntonApp

Wer ist eigentlich ANTON, der uns im Logo so nett anlächelt?
ANTON ist einfach ein netter Name, es gibt keine besondere Geschichte hierzu. In unserem ersten kleinen Büro hing ein Post-It mit einem Smiley an der Wand, der uns immer angelächelt und gute Laune gemacht hat. Irgendwann kamen wir auf die Idee den Smiley in unseren Schriftzug zu integrieren und nach ein paar Versuchen entstand das Logo.

Welche Ziele verfolgt ihr mit der ANTON-App? 
Die Grundidee von ANTON: Alle Schüler*innen sollen einfach mit Spaß lernen können. Das beinhaltet auch, dass jede*r mit ANTON lernen kann ohne dafür bezahlen zu müssen. Wir konzentrieren uns darauf mit einem kleinen Team eine App zu bauen, mit der Schüler*innen gut lernen können. 

Für welche Jahrgangsstufen ist die App konzipiert? Welche beruflichen Hintergründe haben die Mitarbeiter, die daran arbeiten?
Aktuell gibt es Lerninhalte für die Klassenstufen 1–10 und wir wollen in Zukunft bis zum Mathe-Leistungskurs im Abitur alles abdecken. Im Mathe- und Physikbereich sind etwa 10 Personen mit den unterschiedlichsten Hintergründen (Mathematiker, Physiker, Pädagogen, Softwareentwickler, Designer) beteiligt. Ich selber habe VWL studiert und habe vorher bereits andere Lern-Apps entwickelt. 

 

… sie uns hilft die Welt besser zu verstehen.

 

Die ANTON-App arbeitet in Echtzeit. Der Schüler oder die Schülerin weiß direkt, ob seine Antwort richtig oder falsch ist. Den Lehrkräften wird innerhalb der ANTON-App eine Übersicht gegeben, den jeweiligen Leistungsstand zu kontrollieren. Ist die App auch für Nachhilfe geeignet?
Ja, und wir bekommen viel positives Feedback von Förderschulen, Eltern und Nachhilfelehrer*innen. Die App ist auch geeignet bei Dyskalkulie, Legasthenie sowie bei Lese- und Rechtschreib-Schwäche.

Warum ist keine Autokorrektur bei den übersichtlich gestalteten Aufgaben eingebaut?
Das kommt ganz auf das jeweilige Thema, Lernziel und die Klassenstufe an. Bei einigen Aufgaben werden bestimmte Fehler nicht als falsch gewertet aber korrigiert; bei anderen sind wir strenger und du musst die Aufgabe nochmal machen, um alle Sterne, also die volle Punktzahl zu bekommen. 

Die Sterne können in kleine Spiele oder Avatare, z.B. Monster, Puppen und Tiere, umgesetzt werden. Dieses Belohnungssystem hat für Kinder einen sehr großen Anreiz, so dass viele immer weiter lernen wollen. Meine Tochter wünscht sich „Anton-Plus", da sie dann im Gaming-Bereich noch mehr Gestaltungsmöglichkeiten bekommt. 
Wir möchten, dass jede/r Schüler*in kostenlos mit ANTON lernen kann. Wenn du siehst, dass deine Tochter gerne mit ANTON lernt und du das vielleicht auch im Urlaub ohne Internet ermöglichen möchtest, deine Tochter fürs Lernen belohnen möchtest oder einfach nur unser Projekt für 10,-€ im Jahr unterstützen möchtest, kannst du ANTON-Plus freischalten. Das musst du aber nicht und wir freuen uns trotzdem wenn sie mit ANTON lernt.

Wie finanziert sich der „Programmieraufwand“. Alle Lerninhalte gibt es gratis und ohne Werbung ?
Wir haben kein Budget für Marketing und keinen Vertrieb sondern machen nur Produkt- und Lerninhalte-Entwicklung sowie Support. Unsere wichtigste Erfolgskennzahl ist „erfolgreich beendete Level pro Tag" – nicht Umsatz, obwohl der natürlich auch wichtig ist, denn wir haben noch viel vor. Anfangs war für uns die Starthilfe aus Förderprogrammen der EU eine große Hilfe. Mittlerweile gibt es viele Eltern und Schulen, die ANTON-Plus und die Schullizenz kaufen und damit zusätzliche Funktionen wie z.B. bessere Lernstandsauswertungen freischalten und so auch den Betrieb und die Weiterentwicklung finanzieren.

Bevor Lehrkräfte eine App im Unterricht nutzen, müssen sie sichergehen, dass sie mit ihr datenschutzkonform arbeiten. Wie habt ihr das gelöst? Arbeitet ihr ohne Google-, FaceBook- und Amazon im Hintergrund?
Wir machen kein Performance-Marketing und benötigen daher weniger Daten als viele andere Firmen. Wir entwickeln, wo sinnvoll, eigene Technologie und verwenden Server in der EU.

Gerade in Corona Zeiten hat die Anton-App Hochkonjunktur. Es gibt weit über 100.000 Aufgaben, mehr als 200 Übungstypen, Lernspiele und interaktive Erklärungen. 
Wir haben das lange nicht mehr gezählt und wir fügen jeden Tag neue Aufgaben, Übungsformen, Lernspiele usw. hinzu. Es sind auf jeden Fall sehr viele und unser Ziel ist es, alle relevanten Inhalte abzubilden und für jede/n Schüler*in passende Aufgaben anzubieten. Zugriffszahlen habe ich keine aktuellen parat aber ANTON wird sehr intensiv genutzt.

Die Aufgaben sind zu 90 Prozent selbsterklärend. Ersetzt die App Mathematiklehrkräfte und Eltern?
Nein, das ist auch gar nicht unser Ziel. Vielmehr kann ANTON Eltern und Lehrer*innen sinnvoll unterstützen, z.B. sparen sie die Zeit beim Korrigieren von Aufgabenblättern oder der Bereitstellung von individuell passenden Aufgaben für jede/n Schüler*in und haben so mehr Zeit für die Schüler*innen.

Zur Website: www.anton-app.de 

Foto: David Hörmeyer
B. Klompmaker, 03.03.2021

 

2021 Mathemacherin BeckerGloria Becker hat den letzten Aufgabenwettbewerb von „Mathe im Advent“ gewonnen. Dies ist der Grund, mit der engagierten Mathematiklehrerin zu sprechen und sie zur Mathemacherin der Monate Januar und Februar 2021 zu machen.

 

 

Was war Ihr erstes „mathematisches Erlebnis“?

Mein erstes mathematisches Erlebnis war das Rechnen. Als kleines Kind war ich sehr stolz, als ich endlich rechnen konnte. Auch in der Grundschule fand ich es toll, dass die Mathematik-Stunden immer mit dem Kopfrechnen begannen. Die Spannung vor den unbekannten Aufgaben, das möglichst schnelle Rechnen und die Freude über das richtige Ergebnis waren Erlebnisse, an die ich mich immer noch gerne erinnere.

 

… ich mir eine Welt ohne Zahlen nicht vorstellen kann!

 

Welche Fächer unterrichten Sie am Neuen Gymnasium in Bochum?

Ich unterrichte die Fächer Mathematik und Latein in den Jahrgangsstufen 5 bis 12. Mit meinem Unterricht versuche ich, allen Schülern und Schülerinnen gerecht zu werden, also sowohl schwächere Schüler zu fördern, als auch gute Schüler zu fordern. Darüber hinaus ist mir die Begabungsförderung wichtig. Während meines Referendariats in Dortmund habe ich eine Mathematik-AG geleitet und durfte vier Schülerinnen bis ins Finale des B-Dags (niederländischer Mathematik-Wettbewerb) begleiten. Das war ein aufregendes Erlebnis für mich als junge Lehrerin. Auch am Neuen Gymnasium biete ich regelmäßig Arbeitsgemeinschaften in Mathematik oder Latein an um Schülern die Vielfalt von Mathematik und Latein über die Unterrichtsinhalte hinaus zu zeigen. Ich unterstütze unsere Schüler auch bei der Teilnahme an Wettbewerben wie dem Bundeswettbewerb Fremdsprachen, der Mathematik-Olympiade oder „Mathe im Advent“.

Das Erstellen von Unterrichtseinheiten ist ein Steckenpferd von Ihnen. Sie haben mit der Matheaufgabe mit dem Titel „The Voice of Nordpol“  den Aufgabenwettbewerb von „Mathe im Advent“ gewonnen. In der mathematischen Fragestellung geht es darum, mit welcher Strategie man die meisten Likes bekommt. Die Gier nach „Likes“ in den Sozialen Medien ist ein Trendthema bei Kindern und Jugendlichen. Welche mathematischen Teilgebiete sprechen Sie mit der Aufgabe an? 

Die Frage, wie man die Anzahl seiner Likes am besten vergrößert, ermöglicht den Vergleich verschiedener Wachstumsfunktionen. In der Aufgabe werden verschiedene lineare Wachstumsmodelle und das exponentielle Wachstum in Worten beschrieben und die Schüler müssen abschätzen, welches Modell nach 15 Tagen den größten Erfolg liefert. Das spannende an dieser Aufgabe ist, dass sie so vielfältige Lösungswege ermöglicht. Insbesondere für die Adventskalenderaufgaben finde ich dies wichtig, da Schülerinnen und Schüler aus verschiedensten Schulen und Schulformen teilnehmen.

Auf dem MaLeNe-Netzwerk von CASIO haben Sie eine Unterrichtseinheit mit ihrem Kollegen Holger Reeker veröffentlicht. Was ist das für ein Netzwerk und worum geht es in der Unterrichtseinheit?

2021 BeckerMinionDas Mathematik-Lehr-Netzwerk ist ein Projekt der Universität Würzburg zusammen mit CASIO. Ma-Le-Ne hat das Ziel die Qualität des Unterrichts mit digitalen Technologien zu steigern und setzt dabei auf Forschung, Praxisbezug und Lehrerbildung zugleich. 
Holger Reeker und ich haben für MaLeNe eine Unterrichtseinheit zum 3d-Hologramm-Projektor entwickelt: Minions tanzen über dem Smartphone und Schmetterlinge fliegen aus dem Bildschirm. Jeder Schüler kann mit seinem Handy und einem selbstgebastelten Hologramm-Projektor diese beeindruckenden Effekte im Klassenraum erzeugen. Aus einer Kopierfolie wird ein Pyramidenstumpf gebastelt, der als Projektor dient. Die zugrunde liegende Mathematik – Punkte und Geraden müssen an den Trapezflächen des Projektors gespiegelt werden – löst das optische Rätsel. 

2009 haben Sie einen Förderpreis an der Uni Bochum für ihre Masterarbeit "Knotenvarianten-Impulse für den Mathematikunterricht“ erhalten. Ihre Vorschläge zum Unterricht berücksichtigen insbesondere handlungsorientierte Ansätze, die eine schülergerechte Herangehensweise ermöglichen. Wichtig scheint mir in Ihren Aufgaben zudem Anknüpfungspunkte für verschiedene Jahrgangsstufen zu bieten. Können Sie ein Beispiel nennen, wie Sie einen handlungsorientierten Ansatz für verschiedene Jahrgangsstufen konzipieren?

Die Ideen für meine Aufgaben finde ich meistens im Alltag. Häufig sind ganz banale Situationen aus unserer Lebenswelt der beste Ausgangspunkt für eine tolle Mathematikstunde. Als konkretes Beispiel erzähle ich Ihnen von meiner ersten Unterrichtsstunde nach dem Lockdown im Frühjahr. Meine fünfte Klasse hatte sich im Distanzunterricht zu Hause Längen- und Flächenberechnungen erarbeiten müssen. Hinzu kam die Vorgabe an uns Lehrer, dass wir mit den Schülern über die persönlichen Erfahrungen in der Corona-Zeit sprechen sollten. Da kam mir die Idee, eine Rolle Toilettenpapier mitzunehmen. Es wurde eine wunderbare Unterrichtsstunde: Wir sprachen über Hamsterkäufe von Klopapier und leere Supermarktregale, konnten Toilettenpapierblätter vermessen und überlegen, wie viele Rollen wir bräuchten, um den Klassenraum damit auszulegen. 

Wie erfahren Sie diese Zeit des zweiten Lockdowns in dieser Pandemie als Lehrerin und Mutter? 

Viele Aspekte des Lernens auf Distanz sind für mich und die Schülerinnen und Schüler routinierter geworden als im Frühjahr 2020. Unsere Schule ist inzwischen auch technisch gut aufgestellt. Dank der neuen Gigabit-Leitung hielt sogar der Moodle-Server am ersten Tag nach den Weihnachtsferien dem Zugriff von über 1000 Schülern stand. Außerdem sehe ich meine Klassen auch regelmäßig in Videokonferenzen. Trotzdem ist das für mich und die Schülerinnen und Schüler kein Ersatz für den Präsenzunterricht. Wir wünschen uns alle wieder „normalen“ Unterricht in der Schule. 
Als Mutter erlebe ich, wie eintönig der Alltag für die Familien zu Hause geworden ist: Alle Begegnungen in Kindergarten, Schule, Sportverein und Kirchengemeinde fallen weg. Diese persönlichen Kontakte sind für Kinder durch nichts zu ersetzen! 

Arbeiten Ihre Klassen auch im Home-Schooling mit Lern-Apps? Ersetzt die App hier die Lehrkräfte oder die Eltern? 

Ich halte eine große Vielfalt bei den Übungsformaten im Unterricht für sehr wichtig. So setzen meine Kollegen und ich auch web-basierte Übungen wie learningApps.Org  oder die Anton-App in den Fächern Deutsch und Mathematik gelegentlich ein. Den Schülerinnen und Schülern machen diese Übungen meistens viel Spaß. Trotzdem dürfen dabei meiner Meinung nach konventionelle Übungen nicht auf der Strecke bleiben. Insbesondere die offenen Aufgaben, die ja eigentlich am spannendsten sind, können durch Online-Formate nur wenig abgebildet werden.

In der internationalen TIMSS-Studie, in der der Mathematikunterricht an Deutschen Grundschulen im Ranking im Mittelfeld platziert ist, wird festgestellt, dass Lehrkräfte unterdurchschnittlich viele Fortbildungen und Weiterbildungen besuchen. Was meinen Sie: gibt es nicht genug Angebote oder eher kein Interesse? 

Ich glaube, dass es zahlreiche Fortbildungsangebote gibt, aber dass es nicht immer leicht ist, diese auch zu finden. Eine Vielzahl an Akteuren wie Universitäten, Schulbuchverlage, der MNU oder Landesinstitute selbst bieten gute Veranstaltungen für Lehrerinnen und Lehrer an. Gäbe es hier eine gemeinsame Übersicht, würden meiner Meinung nach deutlich mehr Kolleginnen und Kollegen einzelne Angebote wahrnehmen.

Wo können Mathematiklehrkräfte neue mediale pädagogische Konzepte finden und sich mit medialen didaktischen Unterrichtseinheiten auseinandersetzen? Haben Sie einen Tipp?

Auch hier fällt mir kein universelles Wundermittel ein. Ich persönlich nutze learningApps.org  gern, insbesondere jetzt für das Distanzlernen. Die kleinen interaktiven Bausteine lassen sich an vielen Stellen im Unterricht einsetzen und sorgen für Abwechslung und Motivation bei den Schülern. Neben den zahlreich vorhandenen Angeboten, die man direkt nutzen kann, können Schülerinnen und Schüler auch selbst Übungen entwerfen.

2021 Mathemacherin BeckerWinter

 

 

 

 

 

 

 

 

Fotos: G. Becker, privat
B. Klompmaker

Mathemacher des Monats Dezember 2020 sind die engagierten Bonner Dr. Antje Kiesel und Dr. Thoralf Räsch. Antje Kiesel leitet das Bachelor-Master-Büro Mathematik der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und engagiert sich in Projekten zur Studieneingangsphase. Thoralf Räsch ist wissenschaftlicher Leiter der Fachbibliothek Mathematik, Kontaktperson für Schüler*innen, aktiv in der Öffentlichkeitsarbeit und zudem Autor zahlreicher einführender Mathematikbücher. Beide sind in der Lehre tätig, insbesondere in der Mathematikausbildung für andere Studiengänge und im Lehramt.
 

Antje Kiesel: 

sie überall um uns herum zu finden ist.



Thoralf Räsch:

sie beim Spaziergang Spaß bringen kann.

Wie haben Sie den Mathematikunterricht zu Schulzeiten wahrgenommen?

Antje Kiesel: Ich hatte in Mathe immer Spaß, vor allem wenn es ums Verstehen, Knobeln, Anwenden ging. Und ich hatte einen tollen Mathelehrer, der uns für die Mathematikolympiade begeistert hat.

Thoralf Räsch: Gute Lehre startet mit dem richtigen Gefühl der Wertschätzung einander gegenüber. Dann lernt man gemeinsam und gegenseitig, wobei die eine Seite der anderen akademisch die Hand reicht und durch das Wissen führt, basierend auf einer fundierten akademischen Ausbildung. Das ist nicht nur im Schulunterricht wichtig. Wenn ich diese Situation damals in meinem Mathematikunterricht vorfand, war das auch immer gewinnbringend für alle.

Lassen Sie uns nun über ihre aktuellen Projekte sprechen. Was hat es mit der Idee der mathematischen Stadtspaziergänge auf sich?

Antje Kiesel: Die mathematischen Spaziergänge sollen den Unterricht bereichern. Die Übungsstunde wird nach draußen verlagert. Die Schülerinnen und Schüler können die gelernte Mathematik außerhalb des Klassenzimmers in ihrer Lebenswelt erleben.

Thoralf Räsch: Mathematik lässt sich überall in unserem Alltag finden und so auch unterwegs auf einem Spaziergang. Gemeinsam in der Gruppe an alltäglichen Orten soll es besonders Spaß machen, quasi nebenher echte Mathematik zu betreiben.

Wie fing alles an und wie hat sich das Projekt im Laufe der Jahre entwickelt?

Antje Kiesel: Die Spaziergänge entstanden im Rahmen von Bachelorarbeiten von Lehramtsstudierenden der Mathematik an der Universität Bonn. Danach haben wir ein Projektteam gebildet. Einige der Studierenden blieben ehrenamtlich dabei. Zusammen haben wir dann die Aufgaben so redaktionell überarbeitet, dass wir sie veröffentlichen konnten. Eine Mediendesignerin und ein Fotograf haben uns unterstützt, bis wir die erste Broschüre in den Händen hielten.

Thoralf Räsch: Mittlerweile fahren wir zweigleisig. Zum einen gibt es jedes Jahr eine weitere Kohorte an neuen Lehramtsstudierenden mit Bachelorarbeiten zu diesen Themen; zum anderen arbeiten wir in einem flexiblen Projektteam an der Aufarbeitung der Aufgaben für eine potentielle weitere Bereitstellung.

Wo befindet sich Mathematik im Stadtgebiet von Bonn oder in der Umgebung? Bitte nennen Sie zwei Beispiele.

Antje Kiesel: Auf dem Dach der Bundeskunsthalle befinden sich Kegel und eine Pyramide. Wir haben die Volumenbestimmung dieser Körper in den Mittelpunkt einer Aufgabe gestellt und die Vektorrechnung an diesen Objekten in einer anderen Aufgabe thematisiert.

Thoralf Räsch: Der Rosengarten am Fuße der alten Abtei auf dem Michaelsberg im Herzen Siegburgs lädt dazu ein, mittels Strahlensätzen und Dreisatz die Höhen der alten Mauer zu berechnen und nebenher die schönen Beetflächen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

Wie wird das Projekt angenommen?

Antje Kiesel: Erfreulicherweise sind die Schulen begeistert. Der Erfolg im Sommer 2019 nach der Veröffentlichung der ersten Broschüre hat uns selbst überrascht. Die Schulen bestellen Klassensätze bei uns und ziehen dann eigenständig im Unterricht mit den Broschüren los.

Thoralf Räsch: Wir am Hausdorff-Zentrum für Mathematik investieren grundsätzlich schon viel Energie auch in Projekte für die Öffentlichkeit und Schulen. Mit unserer Arbeit reihen wir uns ganz erfolgreich ins Gesamtgefüge ein. Die durchweg sehr positive Resonanz von den Spaziergängen hat uns dann aber auch überwältigt.

Gab es Corona-bedingt dieses Jahr mehr Nachfrage als sonst, da es sich ja um eine Aktivität an der frischen Luft handelt?

Antje Kiesel: Wir haben im Sommer 2020 zwei weitere Broschüren veröffentlicht. Danach erreichten uns wieder Bestellungen und wir wissen auch von Klassen, die Spaziergänge in diesem Sommer durchgeführt haben. Auch in Corona-Zeiten ist das ja möglich. Dennoch war, wohl wegen der Corona-Pandemie, die Nachfrage nicht ganz so groß wie 2019.

Thoralf Räsch: Umso mehr war es schön zu sehen, wie dankbar einige Lehrerinnen und Lehrer die Spaziergänge gerade zu Beginn des neuen Schuljahres nach dem Corona-Sommer angenommen haben, denn als Schüler*innengruppe an der frischen Luft gemeinsam Mathematik zu betreiben, war auch unter Hygieneregeln ein großer Spaß.

Bitte nennen Sie ein paar positive Erlebnisse oder Kommentare von Lehrer*innen und Schüler*innen.

Antje Kiesel: Hier ein paar Zitate aus unserem Feedbackformular: „Ich finde diesen Spaziergang super, gerade auch als Vorbereitung auf die zentrale Klausur.“ oder „Die Schüler haben in Gruppen in einer Art Wettbewerb gearbeitet und waren sehr motiviert, möglichst viele Aufgaben in einer vorgegebenen Zeit zu bearbeiten.“

Thoralf Räsch: In einem UniBonnTV-Video über einen exemplarischen Spaziergang strahlt Lehrer Robert Schwick vom Anno-Gymnasium in Siegburg mit den Worten „Sie sehen einen glücklichen Mathelehrer. Meine achte Klasse hat Mathe gemacht, macht immer noch Mathe, ich krieg‘ die jetzt gar nicht hierher, die sitzen immer noch da vorne, diskutieren, rechnen, ...“ So soll es sein!

Wissen Sie, wie viele Schulklassen oder Schulen Ihr außerschulisches Angebot wahrnehmen?

Antje Kiesel: Das wissen wir tatsächlich nicht genau, denn wir sind in der Regel ja nicht dabei. Da aber regelmäßig Klassensätze der Broschüren bestellt werden, sind es sicher einige.

Thoralf Räsch: Das Schöne an diesen Broschüren ist es ja gerade, dass wir gar nicht unbedingt mitbekommen, wann eine Schulklasse einen Spaziergang macht. Das passiert einfach. Und immer mal wieder erreichen uns von ganz anderen Lehrerinnen und Lehrern Anekdoten, was an einem Spaziergang geschehen ist, weil sie jemanden kennen, der einen solchen in seiner oder ihrer Klasse absolviert hat. Das ist wirklich schön dann zu hören und macht uns glücklich.

Haben Sie auch Spaziergänge für andere Städte in der Region entwickelt oder geplant?

Antje Kiesel: Es gibt derzeit zwei Broschüren für Bonn (Sekundarstufe I und II) sowie eine Broschüre mit Aufgaben in Siegburg.

Thoralf Räsch: Ja, aber es geht uns nicht um irgendeine Art Vollständigkeit. Außerdem reihen sich unsere Spaziergänge auch in ähnlich gelagerte Projektideen von Kolleginnen und Kollegen andernorts gut ein. Wir stärken mit diesen drei Heften aktuell gerade den größten Teil des großen Einzugskreises der Universität Bonn in der Region Bonn/Rhein-Sieg-Kreis.

Wie wird das Projekt finanziert und wie soll es in Zukunft weitergehen?

Antje Kiesel: Wir werden von der Joachim Herz Stiftung und vom Hausdorff-Zentrum für Mathematik unterstützt. Dadurch können wir den Schulen der Rhein-Sieg-Region derzeit die Broschüren sogar kostenlos zur Verfügung stellen. Geplant ist nun eine überregionale Ausweitung des Angebots: mit Aufgaben an flexiblen Lernorten, sozusagen vor der Haustür einer jeden Schule.

Thoralf Räsch: So schnell gehen uns die Ideen nicht aus. Mit den flexiblen Lernorten kann man gefühlt jede Art Mathematik an jeden Ort beliebig tragen. Dabei bauen wir natürlich auf die Kreativität der Leserinnen und Leser, auch passende Lernorte in ihrer Umgebung (wieder-) zu erkennen.

Haben Sie weitere Projekte dieser Art in der Pipeline?

Antje Kiesel: Ja, wir haben noch viele Ideen. Die geplanten Aufgaben mit flexiblen Lernorten werden die Schülerinnen und Schüler auf den Sportplatz um die Ecke, zu symmetrischen Bauwerken, an große Straßenkreuzungen oder Bachläufe führen. Überall kann Mathematik entdeckt werden. Die Schüler schätzen, messen und rechnen. Unser Ziel ist ein umfangreiches Sortiment mathematischer Spaziergänge für alle Klassenstufen, welches im Prinzip von jeder Schule genutzt werden kann.

Thoralf Räsch: Es ist viel Arbeit, aber so lohnenswert. Der Vorteil der Mathematik als universelle abstrakte Wissenschaft lässt sich ja wunderbar auf verschiedene Orte übertragen, beim Volumen einer Litfaßsäule geht es ja nicht konkret um das eine Objekt, sondern mehr um das Wissen der Volumenberechnung eines Zylinders.

uni vl Mathemacher minFoto: Volker Lannert, Kunstwerk von Hans Dieter Bohnet: Integration, 76 (1986) https://www.museum-der-1000-orte.de/kunstwerke/kunstwerk/integration-76