Mathemacher*innen des Monats Juni 2018 sind die Leute hinter MathCityMap. Die Idee ihrer App: Schüler*innen laufen durch die Gegend und lösen an mehreren Stationen Mess- oder Rechenaufgaben, die ihnen die App stellt. Es gibt fast nichts, das nicht als Trailobjekt taugt. Mal messen sie Baumstämme, um ihr Alter auszurechnen, mal wie schnell die Stufen einer Rolltreppe laufen. Ob sie richtig liegen, sehen die Schüler*innen sofort auf dem Bildschirm ihres Smartphones. Sie sehen auch, dass in vielen Dingen viel Mathematik steckt und sie im Grunde sehr konkret ist. Schon tausende Nutzer*innen, meist Lehrer*innen, haben eigene Lehrpfade kreiert und auf mathcitymap.eu geteilt. Hier gibt Projektleiter Matthias Ludwig einen Blick hinter die Kulissen und verrät wie das MathCityMap-Team den Konkurrenten Pokémon Go in die Knie zwingen will.

Herr Ludwig, wie kamen Sie auf die Idee zu Math City Map?

Als ich noch unterrichtete führte ich meine Schülerinnen und Schüler gerne weg vom trockenen Lehrbuch, raus aus dem Klassenzimmer, rein in ihre wirkliche Lebenswelt. Mit Mess- und Schreibzeug liefen wir durch die Würzburger Weinberge und vermaßen Weinstöcke, den Hang, einen Teich im Park oder andere konkrete Objekte in der Stadt. Eine Art Outdoor-Stationenlernen, wodurch die Schülerinnen und Schüler spielerisch einen Blick für die Mathematik in den Dingen gewannen und immer auch ein kleines Abenteuer erlebten.

Die Idee der mathematischen Lehrpfade, der Trails, kam in den 1980er Jahren in England auf. Die damals üblichen Aufgaben waren kunterbunt: Wassergeschwindigkeit bestimmen, Kombinationen abzählen, und so weiter. Zu bunt für eine Unterrichtseinheit. Mit MathCityMap haben wir Trails inhaltlich und zeitlich auf Unterrichtsstunden zugeschnitten und sozusagen ins einundzwanzigste Jahrhundert geführt. Denn die mobilen Technologien bieten neue Möglichkeiten: bessere Verbreitung und Austausch, Hilfestellungen und direktes Feedback zu Lösungen. Es bildet sich eine große Community. Jeder kann im Prinzip mitmachen, sogar selbst kreativ werden und eigene Trails entwerfen und teilen. Außerdem können wir auch die Lerneffekte erforschen, weil wir beim Trail aufgezeichnete Daten mit den handschriftlichen Notizen der Schülerinnen und Schüler koppeln.

Warum wollen sie das?

Eine Frage war, wie man Smartphones sinnvoll im Unterricht einsetzen kann. Bisher gibt die Literatur eher qualitative Bewertung der Trails wieder à la ist toll, macht Spaß. Wir machen begleitend Evaluationsstudien, um den didaktischen Nutzen zu erfassen. Zum Beispiel stellten wir fest, dass Gamification förderlich ist. Die Schülerinnen und Schüler sind motivierter, wenn sie in Gruppen gegeneinander um Punkte mathtrailen. Andernfalls neigen Sie dazu, Ergebnisse zu raten. Unterm Strich ist es eine Win-Win-Win-Situation: Schülerinnen und Schüler sind motivierter und lernen im Schnitt besser als die Kontrollgruppe im Klassenzimmer, Lehrerinnen und Lehrer haben Material und Abwechslung und wir lernen, wie gut das Ganze ist.

MCM Team 2Das MCM-Team. Daniel Birnbaum (AR Erweiterung), Matthias Ludwig (Projektleiter), Jörg Zender (EU-Erweiterung, Forschung zu Lernzuwächsen), Simone Jablonski (Social Media, Aufgabencontent) , Martin Lipinski (Fortbildungen), Iwan Gurjanow (Web- und App-Programmierung, Forschung zu Gamification) [v.l.n.r.]

Was macht einen Ort mathematisch interessant?

Es kommt immer auf die Kreativität des Users an. Es können die banalsten Sachen sein, denen man für gewöhnlich kaum Beachtung schenkt: das Straßenpflaster in der Fußgängerzone, welche Drehsymmetrie hat es? Wie viele Pflastersteine sind auf diesem Platz? Die Haltestelle in unserer Straße, wie wahrscheinlich kommt der Bus in den nächsten fünf Minuten? Der Baum auf dem Schulhof, wie alt ist er? Das ist in einer gewissen Altersspanne proportional zum Durchmesser. Oder die überlebensgroße Statue im Springbrunnen, welche rechnerische Schuhgröße hat sie? Man kann es mit den Beziffern der Umwelt natürlich auch übertreiben. Deshalb und quasi als fächerübergreifende Links runden wir die Aufgaben mit „Sidefacts“ in der App ab, die etwas Folkore und über die Geschichte der Orte erzählen. Wenn man schon einmal dort ist ...

Die Aufgaben kreisen oft um Geometrie und Vermessen …

Ja, Mittelstufen-Geometrie ist stark vertreten. Einmal weil es zum Schulstoff passt. Dann sind Längen, Flächen, Steigungen praktisch zu vermessen und sind ja auch im wörtlichen Sinn offensichtlich, drängen sich eher auf als eine Wahrscheinlichkeit. Aufgaben nach "Schema Schuhgröße“ verbreiten sich auch stärker, weil sie fast überall funktionieren und wir technischen Support beim Erstellen bieten: Mit dem Aufgabenwizzard oder generic tasks kann ich ein Schema übernehmen und mit wenigen Klicks für meine Stadt anpassen.

Mit Maßband anlegen ist es in der Vermessung nicht getan. Auf dem Weg zu Lösung muss ich ebenso Gleichungen richtig anwenden, nach Variablen auflösen und mit Einheiten rechnen. Ist das Volumen eines Steines gefragt, muss ich ihn erst einmal mathematisch modellieren, also den passenden elementargeometrischen Körper finden. Aber auch Fragen der Analysis, der Kombinatorik und bald auch analytischer Geometrie kommen vor.

Mathe überall zu finden ist.


An wen richtet sich MathCityMap?

„Recreational“ oder Freizeit-Mathrailer sind eher die Ausnahme. Als Mathematikdidaktik kümmern wir uns hauptsächlich um den Schulbereich. Daher der starke Zuschnitt auf Unterrichtseinheiten. Wir wissen, dass Lehrerinnen und Lehrer unter enormem Druck stehen und kaum Zeit für zusätzliche Vorbereitung haben. Wir versuchen, es ihnen so leicht wie möglich zu machen.

Überprüfen Sie Trails von Usern?

Sie können private Trails anlegen, die nur Ihre Schülerinnen und Schüler per Code abrufen können. Dort ist die Qualität einfach durch Ihre Kompetenz und durch die erforderlichen Eingabefelder – Lösungshinweise, Lösungsweg, Foto, Koordinaten, etc. – gesichert. Wollen Sie den Trail der ganzen Welt schenken, prüft unser Team vor der Veröffentlichung, ob alles stimmig und technisch einwandfrei ist. Das läuft gut, auch Dank unserer kompetenten Projektbeteiligten weltweit, die Trails in anderen Ländern begutachten. Und das Netzwerk wächst.

Klingt nach einem viralen Erfolg.

Naja, noch sind wir kein ernsthafter Konkurrent für Pokémon Go, einer App mit gleichem Gamingkonzept. Aber für Leute, die von dem Zeug runterkommen wollen, werden wir Ausgabestellen für unser „Mathadon“ einrichten. Spaß beiseite: Es gibt inzwischen über dreitausend Aufgaben und mehr als fünfhundert Trails in elf Sprachen. Geplant sind MathCityMap Institute, wo Fortbildungen für Lehrer*innen, Trailautor*innen, Gutachter*innen etc. stattfinden sollen. Der internationale Austausch ist enorm inspirierend. Ich dachte immer ich hätte viel Phantasie, aber ich treffe immer wieder Leute, die das locker toppen. Die würden auch in der Wüste einen guten Trail hinkriegen. Das ist super! Zu Ende der Förderperiode durch die EU, 2020, machen wir einen großen Kongress. Und hoffen auf Verlängerung.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Ludwig, und alles Gute für ihr Team und MathCityMap!

Matthias Ludwig ist Professor für Didaktik der Mathematik in der Sekundarstufe an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Dort leitet er neben MathCityMap auch die Projekte Fußball-Mathe sowie Mathe.Kind Frankfurt und junge Mathe Adler Frankfurt. 

Ob es Trails in Ihrer Nähe gibt, erfahren Sie in der App. Den Download finden Sie in den üblichen Appstores per direkter Suche oder über die Webseite mathcitymap.eu.

Mathemacher des Monats Mai 2018 ist Leif Döring. Seine Lehre soll Schule machen! So kann man die Auffassung der Jury verknappen, die Leif Döring den diesjährigen Ars legendi-Fakultätenpreis in Mathematik zusprach. Der Preis ist die deutschlandweit höchste Auszeichnung im Bereich der universitären Lehre. Die gestaltet Döring, seit 2017 Professor für Wahrscheinlichkeitstheorie an der Universität Mannheim, mit individualisierten Tutorien und Musterlösungen in Youtube-Videos. Was dahinter steckt, erklärte er dem Medienbüro im Interview.

Herr Döring, warum „individualisieren“ Sie die Lehre?

Üblicherweise gibt es zu Mathematik-Vorlesungen wöchentliche Tutorien, um den aktuellen Stoff in kleinen Gruppen durch Besprechung der Übungsaufgaben zu vertiefen. Gerade Mathematik versteht man erst, wenn man gute Beispiele intensiv diskutiert. Aus verschiedenen Gründen finden in den meisten Tutorien weniger Diskussionen statt, als zum Verständnis nötig wäre. Gemeinsam mit den Studierenden haben wir überlegt, wie mehr Diskussion entstehen könnte. Der Schlüssel war es, unterschiedliche Tutorien anzubieten, die den individuellen Bedürfnissen und Interessen besser entgegenkommen. Das schafft bessere Studienleistungen und mehr Zufriedenheit.

ars legendi fakultaetenpreis mathematik 2018 doering leif

Was mindert denn den Erfolg bisheriger Tutorien?

Stellen Sie sich vor, sie gehen in ein Tutorium. Sie haben eine eigene Lösung vorbereitet, hatten aber Probleme diese richtig zu formulieren. Zur Stunde, wenn Ihre Gruppe mit einer Tutorin oder einem Tutor im Seminarraum sitzt, präsentieren Sie ihre mehr oder weniger korrekte Lösung und die anderen schreiben mit. Die Tutorin verbessert natürlich – meist mündlich oder mit raschem Korrigieren an der Tafel. Ihre Kommilitonen gehen am Ende mit einer halbrichtigen Mitschrift nach Hause, die bei der Klausurvorbereitung jedoch nutzlos ist. Konsequenterweise ist die Rückmeldung der meisten Studierenden, dass sie das Abschreiben von korrekten Musterlösungen der gemeinsamen Erarbeitung vorziehen. Die Sichtweise sehr starker Studierender ist natürlich ganz anders: Sie haben die Aufgaben selber gelöst und bevorzugen die Diskussion weiterer Inhalte.

Als Konsequenz lagern wir die Diskussion von Musterlösungen in Videos aus, getippte Musterlösungen reichen vielen nicht aus, und bieten ganz verschiedene Typen von Tutorien an. Studierende suchen dann gemäß ihren Bedürfnissen das passende Tutorium aus.

Also hindert eine gemischt starke Gruppe den Lernerfolg aller?

In diesem Fall schon. Manche wollen richtig Gas geben, gefordert werden und vielleicht später promovieren. Andere hingegen sind mit einem grundsätzlichen Verständnis zufrieden, etwa wenn sie sich neben der Mathematik auf ein ganz anderes Hauptfach konzentrieren. Wenn wir eine heterogenen Gruppe von Studierenden haben, warum sollten wir zehnmal das gleiche Tutoriumsprogramm anbieten?

Wir bieten deshalb mehrere unterschiedlich ausgerichtete Tutorien an. Das reicht von „Wiederholung“ über „Wie gehe ich an die Aufgaben ran“ bis hin zu „Kreative Diskussion“, in dem zusätzlicher Stoff oder mathematische Tricks besprochen werden.

Müssen Sie die Studierenden dafür einstufen?

Nein, das geschieht ganz natürlich von selbst. Es ist uns wichtig, dass wir die Aufteilung nicht vorschreiben und die Studierenden nicht in Schubladen stecken. Alle Studierenden wählen jede Woche eigenverantwortlich das für sie aktuell passende Tutorium. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Studierende in einer Woche verschiedene Tutorien besuchen.

Ich frage regelmäßig in meinen Vorlesungen: Wo steht ihr? Was braucht ihr gerade? Sollen wir ein neues Tutorium starten? So können die Studierenden sich aktiv in die Ausgestaltung ihres Studiums einbringen.

Klingt nach Emanzipation ...

Die Studis sind natürlich viel zufriedener, wenn sie mitbestimmen können. Es hilft, einfach zu wissen: Ich darf mitreden und mitgestalten, ich werde ernstgenommen.

... Schönheit und Nützlichkeit wunderbar zusammen kommen.

Und wie können wir uns die Musterlösungen vorstellen?

Die präsentieren wir in ganz einfachen Screen-Videos auf Youtube. Sie sehen darin die Rechenschritte auf dem Computerbildschirm des Tutors. Wichtiger noch: Sie hören Erklärungen analog zu Tafelpräsentationen. Vor allem aber sind Sie flexibel im Tempo und Zeitpunkt. Ob Sie Aufgaben mehrfach anschauen, überspringen oder es an einem anderen Tag nochmal anschauen. Vor den Klausuren beobachten wir stark steigende Klickzahlen.

Wie ist die Resonanz sonst?

An der Schlichtheit der Videos hat sich niemand gestört, im Gegenteil. Die Methode findet sich inzwischen in allen Grundvorlesungen an unserem Institut, an anderen Fakultäten und auch an anderen Universitäten. Vermutlich liegt das auch an unserer Strategie, Videos möglichst einfach zu produzieren. Mit aufwändigen Filmdrehs hätten wir wohl kaum Nachahmer.

Mehr Zufriedenheit und besseres Stoffverständnis ... gilt das für alle Ihrer Studierenden? Steckt in der Individualisierung nicht auch Begabtenförderung?

Die Grundsituation ist eine zunehmend heterogene Gruppe von Studierenden. Viele Professoren beschweren sich über diese Entwicklung, weil bisherige Lehrformate zunehmend problematisch werden. Ich bin da eher pragmatisch und versuche das beste für alle meine Studierenden zu erreichen. Also muss ich Studierende mit unterschiedlicher Motivation und natürlich auch unterschiedlichen Begabungen möglichst individuell fördern. Wenn dabei die besonders guten Studierenden gezielt unterstützt werden, ist das natürlich ein willkommener Nebeneffekt.

Mathemacher des Monats Februar 2017 Winfried Scharlau, ein Doktorsohn von Friedrich Hirzebruch, ist in Fachkreisen für seine Arbeiten in der Zahlentheorie bekannt, die an seiner langjährigen Arbeitsstätte, der Universität Münster, entstanden sind, sowie als ehemaliger Präsident der DMV - er leitete den Verein in den Jahren 1991/92. Doch das ist nicht alles: Scharlau hat auch zwei Romane geschrieben: I megali istoria (die große Geschichte) und Scharife – und bedeutende Mathematiker-Biographien zum Beispiel über den Braunschweiger Mathematiker Dedekind und den geheimnisumwitterten Alexander Grothendieck. Scharlau, seit nunmehr 11 Jahren emeritiert, dient seinem Fach auch heute noch als Biograph. Gerade erschien sein jüngstes Werk bei SpringerSpektrum: „Das Glück, Mathematiker zu sein – Friedrich Hirzebruch und seine Zeit“. Grund genug, Winfried Scharlau zum Mathemacher des Monats zu machen und ihn kurz zu interviewen. Thomas Vogt vom DMV-Medienbüro sprach mit ihm.

Nachtrag: Zu unserer großen Trauer erfuhren wir vom Tode Winfried Scharlaus am 26.11.2020. Die DMV trauert um ihr Ehrenmitglied und ihren ehemaligen Präsidenten (1991/92).

W Scharlau(Winfried Scharlau in seiner Berliner Wohnung, Foto: Thomas Vogt)

Auf welchen mathematischen Teilgebieten haben Sie hauptsächlich geforscht?

Algebra, Zahlentheorie, insbesondere Theorie der quadratischen Formen.

Hatten Sie schon immer ein mathematik-historisches Interesse und wann fingen Sie an, mathematik-historisch zu arbeiten?

Mich haben vor allem Mathematiker interessiert und weniger die Ideengeschichte der Mathematik. Insofern bin ich eigentlich gar kein richtiger Mathematik-Historiker. Mein Interesse begann etwa 1980 mit Arbeiten zu Dedekind, an dessen 150. Geburtstag erinnert werden sollte.

Welche Mathematiker-Persönlichkeiten haben Sie besonders in ihren Bann gezogen?

Cardano, Dedekind, Dirichlet, Grothendieck, Hirzebruch, Tits.

Wollten Sie schon länger eine Biographie über Hirzebruch schreiben, oder war das eine Idee des Verlags?

Ehrlich gesagt, kam mir die Idee am Tag von Hirzebruchs Beerdigung, als so viele Menschen aus aller Welt sich um sein Grab versammelten und vielfältige Erinnerungen aus der Vergangenheit wach wurden, die alle diesen großartigen Mathematiker und wunderbaren Menschen Hirzebruch betrafen.

– wie Galilei gesagt hat – das Buch der Natur in der Sprache der Mathematik geschrieben ist.

Daher auch die Idee nicht nur Hirzebruch, sondern auch seine Zeit vor dem geistigen Auge des Lesers auferstehen zu lassen?

Genau. Das bot sich hier perfekt an. Hirzebruch war eben nicht nur ein weltweit wirkender Mathematiker sondern auch – um im Bild zu bleiben – prägend für die Wiederauferstehung der Mathematik in Deutschland in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Er hat dieser als erster nach dem Krieg internationale Sichtbarkeit gegeben.

Wie sind Sie bei der Biographie über Hirzebruch vorgegangen und wie sind Sie an diesen seltenen, teils sehr privat anmutenden, Fotoschatz gekommen?

Die Arbeit verlief ziemlich zufällig. Je nachdem wie ich an Informationen oder Dokumente kommen konnte, mit welchen Personen ich sprechen oder korrespondieren konnte und oft auch, wie mir gerade der Sinn stand, habe ich mal da und mal dort etwas aufgeschrieben und im Verlauf der Arbeit zusammengefügt. Für fast alle Fotos gibt es Quellenangaben. Die meisten wurden mir von Frau Hirzebruch zur Verfügung gestellt; viele habe ich im Laufe der Jahrzehnte selbst gemacht; viel schwirrt heutzutage auch im Internet herum. Übrigens habe ich alle Fotos bearbeitet, um ein technisch einigermaßen akzeptables Ergebnis zu erzielen. Das ist nicht immer so gelungen, wie ich es mir gewünscht hätte. Auf dem Gebiet bin ich einfach kein Profi! (lacht)

Haben Sie weitere Biographien geplant oder in Arbeit oder was machen Sie sonst noch so, nun, da Sie emeritiert sind?

Es ist nichts Größeres geplant und wäre wohl auch gar nicht mehr zu schaffen, denn das "nun" in Ihrer Frage muss man etwas modifizieren: ich wurde ja schon vor mehr als 11 Jahren emeritiert. Allerdings habe ich eine große Sammlung von (selbst gemachten) Fotos von Mathematikern, und diese Sammlung würde ich gerne noch ergänzen.

Hier an der Wand hängen aber nur Fotos von Vögeln ...

(lacht) Ja, Vogelbeobachtung und -fotografie ist auch so ein Hobby von mir!

Das Buch „Das Glück, Mathematiker zu sein – Friedrich Hirzebruch und seine Zeit“ können Sie in der Buchhandlung bestellen oder direkt bei Springer über diesen Link.

Mathemacher der Monate März und April 2018 ist Martin Hikel, ehemals Mathematiklehrer an der John-F.-Kennedy-School in Berlin. Im Frühjahr 2018 ist er zum Bürgermeister von Berlin-Neukölln ernannt worden. Seine intensiven Erfahrungen mit der Mathematik sind geprägt von einem positiven Menschenbild, einer Liebe zur Logik und zur argumentativen Schärfe sowie der Einsicht, dass Mathe und Teamwork ganz natürlich zusammen gehören. Hinderliche Vorurteile der Mathematik gegenüber will Hikel (SPD) überwinden und mehr noch: die Welt aktiv verbessern! Stephanie Schiemann vom DMV-Netzwerkbüro sprach mit ihm.

2018 03 23 Hr. Hikel IMG 1914 BearbeitetBezirksbürgermeister Hikel (vorne) und das Wappen Neuköllns, Foto: Farbtonwerk/Bernhardt Link

Ein Mathematiklehrer wird Politiker. Da freut sich die Mathematik-Community. Mögen Sie uns kurz erklären, warum Sie in die Politik gegangen sind und was ihre wichtigsten Ziele sind?

Ich habe angefangen Politik zu machen, weil ich 2005 mit der damaligen Politik nicht zufrieden war. Ich hatte mir gedacht: Zugucken und meckern kann jeder, aber mitmachen kann auch jeder - das ist das Schöne an unserer Demokratie. Also habe ich mich dazu entschieden mitzumachen, statt zuzugucken. Für mich ist es oberstes Ziel, dass den Menschen die Möglichkeit gegeben wird selbstständig zu sein. Dazu gehört für mich, vom eigenen Lohn und Brot die Miete zahlen, den Kühlschrank füllen und sich selbst verwirklichen können ohne in gezwungener Abhängigkeit vom Staat oder anderen Menschen zu sein. Das deckt sich übrigens auch mit meinem übergeordneten Ziel als Lehrkraft.

Sie fordern: „Bildungserfolg darf nicht von der sozialen Herkunft abhängig sein“. Würden Sie auch sagen „Mathe kann jeder!“? Was meinen Sie, warum trauen sich einige Schülerinnen und Schüler nichts oder nur wenig in Mathe zu?

Viele Kinder haben Angst vor Mathematik, weil es ihnen oft von zu Hause schon mitgegeben wurde. Ich habe Kinder getroffen, die mir gesagt haben, sie könnten kein Mathe, weil ihre Eltern es auch schon nicht konnten. Da haben manche Kinder ein Bild von Mathe im Kopf, das davon ausgeht, in Mathe ginge es nur um Formeln. Dann werden mathematische Ergebnisse zu purem Hexenwerk. Die denken dann wirklich: Ich kann das nicht, weil ich es nicht kann. Diese Tautologie wird dann zur Sperre im Kopf. Das ist überall so - ob in Zehlendorf oder Neukölln. Ich finde, man muss den Kindern dann sagen, dass das Quatsch ist. Gerade in der Mittelstufe kann man viele Probleme mit gesundem Menschenverstand lösen. Wenn Kinder im Unterricht etwas experimentieren können, dann schalten sie oft ihren Verstand ein und finden ganz unkonventionelle Lösungen. Problemorientierte Aufgaben haben das Potenzial, solch ein enges Mathekorsett aufzulösen. Im echten Austausch finden Kinder fast immer einen Lösungsansatz oder können ihn nachvollziehen, weil andere darüber sprechen. Es geht also um Dialog und Menschenverstand beim Lösen von mathematischen Problemen. Wenn die Kinder dann so weit sind, kann man ihnen auch innermathematische Probleme geben. Eigentlich ist ja immer der Weg zur Lösung das Ziel, denn Wege gibt es viele, die es sich lohnt zu erkunden.

Ich finde, dass wir insgesamt aufhören müssen Mathematik wie Hexenwerk zu behandeln. Mathematik ist eine normale Wissenschaftsdisziplin, die interdisziplinär anwendbar ist. Diese Einstellung wünsche ich mir auch im schulischen Alltag. Man kann Mathematik bspw. wunderbar auch in den Sozialwissenschaften anwenden, wenn man statistische Erhebungen auswerten und validieren muss. Selbst die Musik funktioniert nicht ohne Mathematik. Es gibt WissenschaftlerInnen, die interpretieren Bachs Harmonien mathematisch und numerisch.

Sie sagen von sich „Ich bin ein Problemlöser“. Wie meinen Sie das? Gehen Mathematiker anders an Probleme heran?

MathematikerInnen haben die Kompetenz, Probleme und Sachverhalte mit viel Geduld strukturiert zu durchdringen. Außerdem sind es MathematikerInnen gewöhnt sehr komplexe, scheinbar hoffnungslose Aufgaben zu lösen. Was mir immer Hoffnung gibt, ist das Wissen um die Existenz eines logischen Schlusses, der am Ende eines solchen Denkprozesses steht. Wenn man dahin gelangt ist, dann kann man Lösungsansätze ableiten. Letztendlich steckt für mich Optimismus hinter diesem Konzept - also der mathematische Optimismus, der im Alltag sehr hilfreich ist.

... das Leben voller Rechnungen steckt.

Wie lösen Sie selbst mathematische Probleme? (oder wie haben Sie dies in der Vergangenheit gemacht?)

Wenn ich allein gearbeitet habe, dann habe ich eine möglichst angenehme Umgebung gesucht. Ich bin dann oft in den Park gegangen und habe mich dort auf die Wiese gesetzt und gearbeitet. Dann kann man manchmal kurz zwischendurch Luft holen, um neue Ansätze auszuprobieren. Aber es wäre falsch zu sagen, ich wäre so durch das Studium und den Schulalltag gekommen. Viel lieber habe ich mit FreundInnen und KollegInnen zusammengearbeitet, mit denen man über die Aufgaben reden konnte. Im Dialog durchdenkt man Probleme viel effektiver, als im stillen Kämmerlein. Teamwork hat mir sehr viel geholfen.

Wie haben Sie selbst zur Mathematik gefunden? Was begeistert Sie persönlich an ihr?

Irgendwann habe ich für mich festgestellt, dass Mathematik eigentlich Logik in Perfektion ist. Deshalb hat mich immer die Präzision und argumentative Schärfe der Mathematik fasziniert. Letztendlich bildet Mathematik für mich die Basis unserer Denkstrukturen, denn unser mathematisches Verständnis ist das Koordinatensystem in dem wir unsere Denkstrukturen ausrichten.

Herr Hikel, haben Sie vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg im neuem Amt.

Mathemacherin des Monats Januar/Februar 2018 ist Nadine Kiesewalter. Die junge Mathematiklehrerin der Gesamtschule Horst aus Gelsenkirchen hat mit ihrer 7. Klasse das erste Mal am Klassenspiel bei „Mathe im Advent 2017“ teilgenommen. Das Erstaunliche dabei war, wie sich die Klasse selbständig – ohne die Hilfe der Lehrerin – organisiert hat: In Kleingruppen mit unterschiedlichen Lernniveaus wurde außerordentlich engagiert über Mathematik diskutiert. „Dabei sein ist alles“, lautete die Devise. Schwächere und leistungsstärkere Schülerinnen und Schüler knobelten gemeinsam, hatten viel Spaß und außerdem noch viel gelernt! Stephanie Schiemann vom DMV-Netzwerkbüro Schule-Hochschule sprach mit Frau Kiesewalter.

Nadine KiesewalterFoto: Julian Wagner

Sie waren das erste Mal bei „Mathe im Advent“ dabei. Was hat Sie und Ihre Schülerinnen und Schüler motiviert mitzumachen? Sind Ihre Erwartungen erfüllt worden?

Mich hat es vor allem motiviert, den Schülerinnen und Schülern zu zeigen, dass Mathematik viel mehr ist, als das, was wir ihnen in der Schule zeigen können. Vor allem, was Mathematik für einen Rätselspaß auslösen kann. Mir war es sehr wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler unbefangen an Aufgaben herangehen können, da die Aufgabentypen vorher nicht im Unterricht besprochen wurden. Somit mussten sie hier sehr stark mithilfe ihres logischen Denkens arbeiten. Ich habe gehofft, dass sie bemerken, wie viele Aufgaben sie ohne Hilfe lösen können.

Diese Erwartungen wurden vollkommen erfüllt. Teilweise sind sie sogar übertroffen worden, sodass ich dank „Mathe im Advent“ und meiner Klasse fast täglich Gänsehautmomente hatte.

Konnten Sie auch leistungsschwächere Kinder motivieren?

An unserer Gesamtschule erfolgt ab der der 7. Klasse eine äußere Differenzierung im Fach Mathematik. Die Schülerinnen und Schüler einer Klasse sind je nach Fähigkeit in Erweiterungs- und Grund-Kurs aufgeteilt. Hier war es mir sehr wichtig, nicht nur mit den E-Kurs Schülerinnen und Schülern bei „Mathe im Advent“ teilzunehmen. Dies führte dazu, dass die Kinder nicht nur mich, sondern auch sich selbst immer wieder mit kreativen Lösungen überraschten, unabhängig davon, aus welchem Kurs sie stammten. Nur ein paar Schülerinnen und Schüler hatten Probleme die Aufgaben zu lösen. Allerdings war es toll zu sehen, welchen Eifer sie entwickelten und wie gut sie die 24 Tage durchgehalten haben. Das war mir persönlich auch viel wichtiger als die richtigen Antworten. Die Schülerinnen und Schüler überraschten mich mit einer zunehmenden hohen Frustrationstoleranz. Das „Dranbleiben“ ist meiner Meinung auch der Schlüssel zum Erfolg.

Wie lief das Aufgabenlösen in Ihrer Klasse? Hat jeder für sich geknobelt oder immer die Klasse zusammen…?

Das Aufgabenlösen war eins der Dinge, die mich in der Zeit am meisten fasziniert haben. Die Schülerinnen und Schüler haben sich hierbei vollkommen selbstständig organisiert. Sie haben, ohne es zu wissen, ein „Think-Pair-Share System“ eingesetzt. Sie haben die gesamte Klasse in vier heterogene Kleingruppen eingeteilt. In jeder Kleingruppe gab es einen Sprecher. Diese Sprecher haben sich in einer weiteren Gruppe per WhatsApp ausgetauscht. So haben die Kinder erst in der Kleingruppe über die Aufgaben diskutiert. Sind sie dann zu einer Lösung gekommen, haben die Sprecher ihre Gruppenlösungen verglichen. Wenn diese Lösungen gleich waren, haben sie diese Online abgegeben. Bei unterschiedlichen Lösungen haben sie mit diesem neuen Impuls noch einmal in ihrer Gruppe über die Lösung diskutiert. Somit hat erst jeder alleine geknobelt und ist dann in die Kommunikation mit den anderen getreten. Ich habe meine Klasse selten so wundervoll über Mathematik diskutieren gehört.

... sie immer wieder zum Knobeln und Rätseln einlädt.

Läuft auch ohne Sie?!? Was war Ihre Rolle?

Weil dies so gut lief, habe ich meinen Schülerinnen und Schülern öfters im Unterricht die Zeit gegeben, über die Aufgaben nachzudenken. Dabei fand ich es besonders toll, dass ich in der gesamten Zeit nie nach einer fertigen Lösung gefragt wurde. Die Schülerinnen und Schüler konnten differenziert ausdrücken, wenn sie Probleme oder Fragen hatten. Diese haben sie aber vor allem unter sich geklärt. Aufgrund mancher Sprachprobleme habe ich den Schülerinnen und Schülern höchstens dabei geholfen, die Aufgabenstellung richtig zu verstehen. Es war mir auch wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Lösungswege und vor allem Darstellungsarten nutzten. Überraschend war es für mich auch, dass die Schülerinnen und Schüler so unbeschwert und selbstbewusst an teilweise sehr komplexe Aufgaben herangegangen sind. Die Schülerinnen und Schüler zeigten ein Selbstvertrauen ins eigene Können. Gerade dieses Selbstvertrauen fehlt leider im Mathematikunterricht oft.

Wer oder was hat Sie damals für die Mathematik begeistert? Wann fing Ihr Interesse an? Erzählen Sie mir ein wenig davon.

Mein Interesse fing etwa in der sechsten Jahrgangsstufe an. Hier war ich vor allem an der Geometrie interessiert. Die Hintergründe der Schulmathematik lernte ich erst im Studium kennen und das begeisterte mich. Hier habe ich aber auch deutlich gemerkt, wie sich das mathematische Denken ändern muss, um Sätze und Beweise verstehen zu können. Mein schönster Moment passierte am Ende des Studiums: In einer Didaktik Vorlesung ging es um einen Beweis aus der ersten Analysis Vorlesung und wie man diesen in der Schule umsetzen kann. Mich interessierte es, ob wir in der ersten Analysis Vorlesung den gleichen Beweis genutzt haben. Ich hatte mir zu Beginn des Studiums ein Analysis Buch gekauft, welches ich in den ersten Semestern leider überhaupt nicht verstanden habe. Es stand daher mein ganzes Studium unberührt in einem Regal. Am Ende des Studiums suchte ich eben dieses Buch und schlug den Beweis nach. Dann passierte etwas Wundervolles: Ich konnte es ohne Probleme lesen. Ich verstand jeden einzelnen Satz.

Ist die Begeisterung im Beruf als Lehrerin erhalten geblieben?

Definitiv ja! Ich finde es schön, wie vielfältig die Mathematik ist. Mir ist es wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler vor allem Strategien zum Aufgabenlösen entwickeln, anstatt auswendig gelernte Regeln auszuführen. Ich denke auch, dass man als Lehrerin eine Begeisterung für sein Fach haben muss, nur dann kann man seine Schülerinnen und Schüler für das Thema begeistern.

Hätten Sie einen Wunsch für die Mathematiklehrer-Ausbildung? Wenn ja, welchen?

Ich bin froh, dass es in meiner Universität keine separaten Mathematikvorlesungen für Lehramtsstudierende gab, sodass ich während meines gesamten Studiums engen Kontakt zu Kommilitonen hatte, die nur Mathematik studiert haben. Dadurch habe ich keine „abgespeckte“ Version der Mathematik vermittelt bekommen und konnte tiefe Einblicke in das Fach erhalten. Die dabei erlernten Denkmuster und Herangehensweisen an Probleme haben mir – wie oben beschrieben – dabei geholfen, auch Schulstoff anders wahrzunehmen und meinen Unterricht zu untermauern. Ich hoffe, dass dieses differenzierte Bild der Mathematik auch zukünftigen Lehramtsstudierenden ermöglicht wird. Auch wenn viele Lehramtsstudierende klagen, dass sie mit den meisten Inhalten des Studiums im Unterricht nicht wieder in Berührung kommen werden, lernt man doch hauptsächlich abstraktes Denken. Außerdem ist es doch toll, wenn man auch den Hintergrund dessen, was man in der Schule lehrt, verstanden und durchdrungen hat. Denn dadurch wird das Denken viel flexibler und es ist sehr viel besser möglich, auf die Schülerinnen und Schüler einzugehen, sie für die Mathematik zu begeistern und noch eine andere Erklärung für etwas schwer Verständliches zu finden.

Im Referendariat haben wir viel über Grundvorstellungen und über verschiedene Aufgabentypen in der Mathematik gelernt und das hat mir sehr dabei geholfen, den Unterricht noch angepasster zu gestalten. Dies wünsche ich auch allen anderen in der zweiten Ausbildungsphase.